Klimawandel in der Antarktis: „Viele Zusammenhänge haben wir noch nicht verstanden“
Antarktisforscher haben eine Liste erstellt mit den drängendsten Fragen ihrer Zunft. Hier spricht Julian Gutt über mögliche Folgen des Klimawandels, die Verantwortung der Forscher und den aufstrebenden Tourismus.
Herr Gutt, Sie haben gemeinsam mit 75 internationalen Wissenschaftlern eine Liste erarbeitet, die die wichtigsten Forschungsthemen zur Antarktis für die nächsten zwei Jahrzehnte enthält und die nun veröffentlicht wurde. Welche großen Fragen stehen darauf?
Natürlich interessieren uns die Veränderungen, die mit dem Klimawandel zu tun haben. Vieles haben wir nämlich bis heute nicht verstanden. Etwa, warum sich das antarktische Meereis ausdehnt – viele Modelle sagten das Gegenteil voraus. Uns Biologen interessiert besonders, wie die Lebensgemeinschaften reagieren, was zum Beispiel mit Pinguinen geschieht, auf deren Kolonien plötzlich Regen statt Schnee fällt. Genauso spannend sind Fragen der Astrophysiker, die mit ihrem Icecube-Observatorium am Südpol das „dunkle Universum“ ergründen wollen, also dunkle Energie und dunkle Materie. Und das sind nur einige von Dutzenden Fragen.
Warum haben Sie diesen Katalog erarbeitet? Es ging bisher auch ohne.
Sicher, aber bislang ist die Forschung häufig eher ressourcenorientiert. Das heißt, ich schaue, welche Geräte und welches Personal ich habe und danach richtet sich die Arbeit. Das ist teilweise langweilig und ineffektiv. Wir wollten Bewegung in die Sache bringen und fragten: Was ist wirklich wichtig zu wissen? Unabhängig von dem, was zur Verfügung steht. Ich sehe uns Wissenschaftler auch in der Verantwortung, dass wir nicht unser Programm abspulen, das wir seit Jahren haben, sondern bereit sind, neue Schwerpunkte zu setzen.
Welche Schwerpunkte sehen Sie als Meeresbiologe?
Die Ozeanversauerung wird vielleicht am deutlichsten in den kalten Gewässern zu spüren sein. Darum müssen wir die Polargebiete erforschen, wenn wir erkennen wollen, was auf uns zukommt. Wir dürfen aber nicht, wie bisher oft geschehen, nur schauen, wie eine einzelne Art mit einem Stressfaktor, etwa der Versauerung, zurechtkommt. Die Realität ist komplexer, also müssen wir auch die anderen Umweltveränderungen wie steigende Temperatur oder schwindendes Eis mit berücksichtigen. Und zwar nicht nur für bestimmte Fische oder Muscheln, sondern für ganze Lebensgemeinschaften.
Was bringt uns diese Erkenntnis? Abgesehen von wenigen Forschungsstationen ist die nächste menschliche Siedlung einige tausend Kilometer von der Antarktis entfernt.
Die Folgen betreffen uns alle. Der Südozean, der sich um die Antarktis herum zieht, produziert Nahrung für Arten, die weltweit vorkommen, etwa Blauwale und Albatrosse. Fisch- und Krillbestände, die zunehmend befischt werden, hängen davon ab, wie viel Plankton in den südpolaren Gewässern heranwächst. Wir nennen das „Ökosystem-Dienstleistung“ – und die dürfte sich ändern, wenn der Klimawandel voranschreitet.
Das heißt, es wird weniger Futter für unsere Speisefische geben?
Nicht unbedingt. Um eine eindeutige Antwort zu geben, müssen wir ergründen, wie Klima und Biologie zusammenhängen. Noch gibt es viele Fragen. Wenn der Kohlendioxidgehalt steigt, gibt es dann mehr Algenwachstum? Verbrauchen die Algen massenhaft CO2 und das Problem löst sich von selbst? Oder gibt es Rückkopplungen, wodurch noch mehr Treibhausgase entstehen? Im Moment müssen wir ehrlich sagen: Diese komplexen Zusammenhänge haben wir noch nicht richtig verstanden.
Die Antarktisforschung erlebt einen Aufschwung. Neben Deutschland, Russland oder Großbritannien, die schon lange am Südpol arbeiten, sind Länder wie Belgien, China, Tschechien und Indien hinzugekommen. Wächst damit die Gefahr, dass die sensible Umwelt geschädigt wird, etwa durch auslaufenden Treibstoff?
Ja, aber ich denke, dass das Risiko beherrschbar ist. Es gibt sehr strenge Vorschriften und ich kann zumindest für die deutschen Expeditionen sagen, dass die hiesigen Behörden genau darauf schauen, was wir Wissenschaftler tun. Neben Unfällen, auf die Sie abzielen, ist eine große Gefahr, dass Wissenschaftler oder Touristen fremde Arten einschleppen, vor allem an Land. Doch das lässt sich vermeiden, indem man beispielsweise die Stiefel und seine Ausrüstungsgegenstände sauber hält, damit keine Samen auf den Kontinent gelangen.
Der Tourismus hat sich im vergangenen Jahrzehnt fast verdreifacht, 34 000 Besucher im Jahr wurden zuletzt gezählt. Sollte es eine Beschränkung geben?
Verbote helfen nicht weiter. Am Ende tragen die Schiffe womöglich Fahnen von Ländern, die die Antarktisverträge nicht unterzeichnet haben und sich deshalb nicht daran halten müssen. Ich finde, es ist besser, Tourismus zu erlauben, aber mit strengen Auflagen für Umwelt- und Naturschutz.
Die Fragen stellte Ralf Nestler.
Ralf Nestler