Verwunderung, Ärger und viele offene Fragen: „Verdammte Trottel“ – Astrazeneca-Streit wird zur Schlammschlacht
Ist der Impfstoff bei älteren Menschen kaum wirksam? Hinweise darauf verdichten sich. Die EMA schließt inzwischen eine begrenzte Zulassung nicht aus.
Am Freitag könnte der Corona-Impfstoff des Pharmaherstellers Astrazeneca von der EU-Arzneimittelbehörde EMA zugelassen werden. Doch schon im Vorfeld sorgt das Vakzin des britisch-schwedischen Konzerns für Aufregung. Einem „Handelsblatt“-Bericht zufolge soll der Astrazeneca-Impfstoff eine Wirksamkeit von nur acht Prozent bei Menschen über 65 haben. Die Zeitung beruft sich dabei auf Koalitionskreise, die Einblick in aktuelle Auswertungen der Europäischen Arzneimittel-Agentur Ema haben sollen. Auch die „Bild“-Zeitung berichtete darüber.
Am Dienstagmorgen wies der Hersteller die Berichte zurück. Die Meldungen, dass der Impfstoff bei älteren Menschen nur eine geringe Wirksamkeit habe, seien „komplett falsch“, teilte ein Sprecher mit.
Astrazeneca verwies unter anderem darauf, dass die Notfallzulassung der britischen Aufsichtsbehörde für Arzneimittel (MHRA) ältere Menschen mit einschließe. Auch habe ein Beratungskomitee für Impfungen den Einsatz des Impfstoffs bei Senioren unterstützt.
Zudem habe eine im November im Fachblatt „Lancet“ veröffentlichte Studie gezeigt, dass der Impfstoff auch bei Senioren eine starke Immunantwort auslöse. Allerdings heißt es in einer späteren „Lancet“-Veröffentlichung auch, dass es wegen geringer Fallzahlen in der entscheidenden klinischen Studie noch wenig Daten zur Wirksamkeit bei älteren Menschen gebe.
Die Medienberichte sind heikel - denn sollte der Impfstoff bei älteren Menschen tatsächlich nur eine Wirksamkeit von acht Prozent vorweisen, könnte er bei dieser Gruppe wohl nicht eingesetzt werden. Und damit ausgerechnet bei der Personengruppe ausfallen, bei der das Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufs besonders hoch ist. Bei den bisher zugelassenen RNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna liegt die Wirksamkeit in dieser Gruppe bei mehr als 90 Prozent.
Wie der „Business Insider“ berichtet, hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in einer Telefonkonferenz mit seinen Länderkollegen am Montag angekündigt, die Impfreihenfolge ändern zu wollen. Demnach geht die Regierung davon aus, dass die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) am Freitag nur eine Empfehlung zur Nutzung des Astrazeneca-Impfstoffs für unter 65-Jährige geben werde.
Spahn (CDU) erklärte am Dienstagmorgen im "ZDF-Morgenmagazin", dass er nicht über die Wirksamkeit des Impfstoffes spekulieren wolle. Nächste Woche werde auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse und auf Basis der Zulassungsentscheidung geprüft, welche Gruppe zuerst mit dem Impfstoff geimpft werde. „Wir warten die Entscheidung erst einmal ab“, sagte er weiter.
Dem nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann zufolge wollen die Gesundheitsminister der Länder und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn allerdings am Samstag über den Corona-Imfpstoff beraten. „Wir erwarten am Wochenende die Zulassung dieses Impfstoffes durch die europäische Arzneimittelbehörde“, sagt Laumann.
Dann werde es auch „einen 'Beipackzettel' geben, auf dem steht, wofür der Impfstoff besonders geeignet und wofür er auch vielleicht nicht besonders geeignet ist“. "Wir werden am Samstag eine Telefonschalte haben zusammen mit dem Bundesgesundheitsminister um dann zu gucken, wie wir damit umgehen", fügt Laumann hinzu.
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Am Dienstagabend äußerte sich die EU-Arzneimittelagentur EMA zu den Berichten. Sie schließe nicht aus, dass der Corona-Impfstoff von Astrazeneca in Europa nur für eine bestimmte Altersgruppe zugelassen wird, hieß es. „Ich werde der Entscheidung nicht vorgreifen“, sagte EMA-Chefin Emer Cooke in einer Anhörung im Europaparlament. Eine begrenzte Zulassung sei aber grundsätzlich möglich. Dies werde genau geprüft.
Cooke bestätigte, dass für den Astrazeneca-Impfstoff nur wenige Testdaten für ältere Menschen vorlägen. Die EMA prüfe nun im Zulassungsverfahren alle vorhandenen Daten darauf, was diese für die getesteten Bevölkerungsgruppen aussagten und was sich daraus belastbar für andere Gruppen schließen lasse. Die Behörde erhalte für das laufende Zulassungsverfahren immer noch neue Daten vom Hersteller. Diese trügen dazu bei, die Leistung des Impfstoffs besser einzuschätzen, sagte Cooke.
Gregor Waschinski, einer der Autoren des Handelsblatt-Artikels erklärt, dass der Bericht von mehreren Quellen, „die mit der deutschen Impfpolitik vertraut sind“ bestätigt wurde - darunter seien auch Mitglieder der Regierungskoalition.
Es handele sich nicht um einen „akademischen Vordruck“. Die Quellen hätten unter „Bedingung der Anonymität“ gesprochen, die Geschichte könne somit nicht „on the record“ belegt werden, auch die zugrunde liegenden Daten könnten deshalb nicht veröffentlicht werden.
Bundesgesundheitsministerium weist Berichte zurück
Das Bundesgesundheitsministerium weist derweil die Berichte über eine angeblich schlechtere Wirksamkeit des Impfstoffs zurück. Aktuelle Berichte dazu könne man nicht bestätigen, erklärte ein Sprecher am Dienstag.
Auf den ersten Bick scheine es so, als seien die Daten verwechselt worden: Rund acht Prozent der Probanden der Astrazeneca-Wirksamkeitsstudie seien zwischen 56 und 69 Jahre alt gewesen, nur 3 bis 4 Prozent über 70 Jahre. Daraus lasse sich aber nicht eine Wirksamkeit von nur acht Prozent bei Älteren ableiten. Die EMA wird die Studien auswerten, heißt es aus dem Ministerium.
Dem „Handelsblatt“ zufolge soll ein hochrangiger Beamter des Bundesgesundheitsministeriums allerdings Einsicht in die Daten haben und dem Blatt gesagt haben: „Eine Verwechselung der Zahlen ist ausgeschlossen. Die Wirksamkeit bei den über 60-Jährigen liegt nach Ansicht der uns bislang zur Verfügung stehenden Daten bei unter zehn Prozent.“
London reagierte verärgert auf die deutsche Berichterstattung. „Keine Ahnung, wo die Zahl herkommt“, zitierte das für gewöhnlich gut informierte englischsprachige Online-Portal „Politico“ aus Regierungskreisen in London.
Das US-Portal geht ebenfalls von einer Verwechselung aus: „Acht Prozent ist der Anteil der über 65-Jährigen, die an der Studie teilgenommen haben, aber nicht die Wirksamkeit“, heißt es in dem Bericht von „Politico“ weiter. Ein anderer ranghoher Mitarbeiter des Regierungsapparats nannte die Berichte demnach „unbegründet und falsch“.
Bericht über Impfstoffwirkung birgt politische Brisanz
Ein britischer Entscheider erklärte sogar, solche Angaben erwarte man eher „von den Russen“ als von deutschen Medien. Und ergänzte „verdammte Trottel“. „Danach wird die Unterstützung für den Brexit bei etwa 90 Prozent liegen“, zitiert „Politico“ eine weitere Regierungsquelle.
„Politico“-Autor Max Wickham unterstreicht, wie politisch brisant der Bericht ist. Wenn es sich herausstellt, dass der „Handelsblatt“-Bericht falsch sei, sei das „ein Karriere-Killer für die Beteiligten“, schreibt er. Wenn die deutschen Beamten falsch liegen und „Anti-Impf-Desinformation“ verbreiten, sehe es für das deutsch-britischen Verhältnis „ziemlich schlecht“ aus. „Aber wenn Angaben der britischen Seite falsch sind... Gott im Himmel.“
„The Times“-Journalist Oliver Moody gab auf Twitter unter Berufung auf den britischen Pharmako-Epidemiologen Stephen Evans ebenfalls zu Bedenken, dass womöglich die 8 Prozent "das untere Ende eines sehr breiten 95%-Konfidenzintervalls gewesen sein könnten". Dies sei wegen einer geringen Anzahl von Infektionen in dieser Unterstichprobe denkbar.
Dem politischen Korrespondenten der „Financial Times“ Jim Pickard zufolge wäre die Berichterstattung ein „großes Missverständnis“.
Der schwedisch-britische Konzern Astrazeneca steht derweil wegen einer angekündigten Verzögerung bei der Auslieferung des Impfstoffes in der Kritik. Die EU-Kommission bezeichnete die Lieferverzögerungen als „nicht akzeptabel". Die EU habe „Entwicklung und Produktion des Impfstoffes vorfinanziert“ und verlange nun dafür die Gegenleistung, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides am Montag.
Astrazeneca hatte am Freitag mitgeteilt, der EU zunächst weniger Corona-Impfdosen liefern zu können als vorgesehen. Grund seien Probleme in „einem Werk in unserer europäischen Lieferkette“. Die EU hat bereits rund 400 Millionen Dosen des Impfstoffes bestellt. In Großbritannien wird das Astrazeneca-Vakzin bereits eingesetzt.
Ein Insider sagte dem Tagesspiegel, das Problem mit Astrazeneca sei nicht nur rechtlicher Art, da die Produktion der Firma in Belgien einfach im Moment nicht laufe. Auch für den Standort in Belgien habe die EU eine Vorfinanzierung übernommen, um Produktionskapazitäten zu sichern. Daher entstehe vertragsrechtlich massiver Druck für das Unternehmen.
Dies ändere aber nichts daran, dass der Firma Kapazitäten fehlten. Vermutlich habe der Konzern einen drastischen Wegfall der geplanten Lieferungen im ersten Quartal um ganze 60 Prozent angekündigt, um anschließend bei einer möglichen Nachbesserung Verhandlungsspielraum zu haben, sagte der Insider weiter.
Am Dienstagmittag lenkte der Pharmakonzern ein - nach Informationen aus EU-Kreisen bot Astrazeneca an, die EU-Staaten eine Woche früher als bislang geplant mit seinem Vakzin zu beliefern. Ursprünglich war der 15. Februar als Beginn der Lieferungen geplanten. Nun werde der 7. Februar anvisiert, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf EU-Vertreter. Keine Klarheit gebe es in der Frage, ob Impfstoff aus Großbritannien in die EU umgeleitet werden könne, um hier mehr Vakzin verfügbar zu haben (mit dpa, AFP Reuters)