Harter Kampf um Studienplätze: US-Schüler unter Druck
Der harte Kampf um Studienplätze und die enormen Anforderungen für die Schule belasten Teenager in den USA viel stärker als früher. "Macht mal halblang", wird daher gefordert.
Zuerst waren es nur Gerüchte auf den Schulfluren, doch dann brachten Medienberichte die traurige Gewissheit: Innerhalb von einer Woche haben sich im wohlhabenden Landkreis Montgomery County nördlich von Washington zwei Oberschüler das Leben genommen. Nicht nur in den Vorstädten der US-Hauptstadt machen derzeit solche Nachrichten die Runde. Immer zum Jahreswechsel steigt in den USA die Zahl der Teenager-Suizide an, sagen Experten. Sie sehen bei vielen Fällen einen Zusammenhang mit dem wachsenden Druck auf die Schüler durch das US-Bildungssystem, in dem der Kampf um Plätze an guten Universitäten schon Monate vor dem Abitur beginnt.
An einer der 20 Oberschulen in Montgomery County wurden die Lehrer angewiesen, den Schülern der Abiturklasse am letzten Wochenende vor Weihnachten die Hausaufgaben zu ersparen – doch damit lässt sich das Problem auf Dauer wohl kaum lösen. In dem Landkreis haben sich im Jahr 2017 fünf Teenager das Leben genommen, nach jeweils drei Fällen im Jahr zuvor und 2015. Laut der Gesundheitsbehörde CDC denkt fast jeder fünfte amerikanische Oberschüler mindestens einmal im Jahr ernsthaft über Suizid nach. 14 Prozent planen einen Suizid, acht Prozent versuchen, sich das Leben zu nehmen. In der Altersgruppe der 15- bis 24jährigen in den USA sind Suizide die zweithäufigste Todesursache nach Verkehrsunfällen. Jede Woche bringen sich im Durchschnitt 100 amerikanische Teenager um, hat die Hilfsorganisation Jason Foundation errechnet.
Es geht um Höchstleistung und blendendes Aussehen
Es gibt viele Gründe dafür; Bullying auf dem Schulhof und im Internet, Vereinsamung, Depression oder Drogen sind einige. Doch auch der Kampf um die besten Studienplätze ist ein Faktor. Das Schulsystem erhebe immer höhere Ansprüche an die Schüler, sagte der Kinderpsychologe Dan Nelson „USA Today“.
Eine Gesellschaft, in der es immer stärker auf Höchstleistung bei blendendem Aussehen ankommt und in der dank Internet und Smartphone ein ständiger Vergleich mit erfolgreicheren Konkurrenten möglich ist, verursacht viel Stress, sagen Experten. An zwei Oberschulen in der Region um das High-Tech-Mekka Silicon Valley in Kalifornien, einer Gegend mit einer hohen Konzentration erfolgreicher Eltern und hohen Erwartungen an die Kinder, haben sich innerhalb von sieben Jahren zehn Schüler umgebracht, Dutzende weitere kamen wegen Suizidgefahr in medizinische Behandlung.
„Der Druck auf die Schüler ist Wahnsinn“, sagte Martha Cabot, eine Schülerin aus Silicon Valley, die nach dem Freitod eines Mitschülers ein YouTube-Video aufnahm, um Alarm zu schlagen. Der Clip wurde fast 100 000mal angeschaut. An die ehrgeizigen Eltern in der Gegend gerichtet, sagte das Mädchen: „Macht mal halblang.“ Es könne doch nicht sein, dass erst ein Suizid das System dazu bringe, etwas zu ändern.
Außerschulische Aktivitäten erhöhen den Druck
Das war im Jahr 2014, doch bisher tut sich nichts am System in den USA. Bei der Vorbereitung auf Abitur und Universität zählen für viele 16- bis 18-jährige Oberschüler nicht nur gute Noten und eine hohe Punktzahl beim Hochschul-Zugangstest SAT. Mit einer zusätzlichen Kurslast im Unterricht und außerschulischen Aktivitäten wollen sich viele ihrer künftigen Uni besonders empfehlen. Regelmäßige Nachhilfe zur Verbesserung der Noten ist selbst für gute Schüler gang und gäbe. Um bei den ersten Vorauswahlen der Unis mit dabei zu sein, müssen Schüler im Abiturjahr ihre Bewerbungen bereits Anfang November – mehr als ein halbes Jahr vor der Abi-Prüfung – einreichen.
Für die Familien geht es dabei nicht nur um akademische Lorbeeren, sondern auch um viel Geld. Häufig können die Extraleistungen aus der Schulzeit aufs Studium angerechnet werden. Wenn sich ein neuer Student manche Erstsemesterkurse schenken kann, verkürzt das die teure Studienzeit, die an einer privaten Uni im Schnitt 32 000 Euro im Jahr kostet. Hausaufgaben und Kursvorbereitungen bis tief in die Nacht sind deshalb für etliche amerikanische Schüler normal.
Früheren Generationen war ein solcher Stress unbekannt. „Was die an Belastung und Termindruck mit sich herumschleppen, hätten viele von uns als Teenager nicht ausgehalten und könnten es vielleicht auch heute nicht“, sagte die Schulsozialarbeiterin Donna Bray der Zeitung „Miami Herald“ über die Teenager an ihrer Schule in Florida. Das Weihnachtsfest brachte da nur eine kurze Verschnaufpause: Viele Unis wollen schon im Januar die Bewerbungsunterlagen sehen.
Für Berliner Jugendliche mit Suizidgedanken gibt es das Krisentelefon von Neuhland, montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr erreichbar unter 8730111. Rund um die Uhr hilft der Berliner Krisendienst (Telefon 3906300).
Thomas Seibert