Die Arktis schmilzt so stark wie nie: Und dann ist der Eisbär weg - für immer
Mit dem Eis in der Arktis verschwindet durch den Klimawandel auch das größte Landraubtier der Erde, und zwar schon bis zum Ende dieses Jahrhunderts.
Nein, er ist kein Knuddeltier, sondern das größte an Land lebende Raubtier der Erde: Der Eisbär ist zur Ikone des Klimawandels und der Auswirkungen auf die Natur geworden. Die Bilder abgemagerter Exemplare stehen sinnbildhaft für den Schwund des arktischen Eises und den Verlust der Lebensgrundlage dieser und vieler anderer Arten.
Exakte Zahlen zum Bestand von Ursus maritimus in seinem riesigen Verbreitungsgebiet rund um den Nordpol gab es allerdings bisher ebensowenig wie verlässliche Daten zum Artensterben in der Arktis. Doch eine aktuelle Studie wagt nun eine konkrete Aussage zum Aussterberisiko des Eisbären.
Dazu haben kanadische Forscher um Peter Molnar an der Universität in Toronto verschiedene Hochrechnungen von Daten zu eisfreien Zeiten mit der maximal möglichen Dauer der Fastenzeit der Eisbären kombiniert. Diese wiederum beeinflusst nicht nur die Sterblichkeit der Tiere insgesamt, sondern auch die Phase der Laktation, also wie lange die Weibchen Milch geben und Säugen.
Diese Informationen erlauben nun erstmals Vorhersagen zu zukünftigen Populationstrends: Demnach werden Eisbären bis Ende des Jahrhunderts tatsächlich aussterben – wenn die Kohlenstoffdioxidemissionen nicht drastisch reduziert werden.
Eisbären leben in der nördlichen Polarregion. Aber auch die Küsten und Inseln des Nordpolarmeeres in Russland, Norwegen, Grönland, Kanada und Alaska gehören zu ihrem Lebensraum.
Auch auf Neufundland und Island werden regelmäßig einzelne Eisbären gesichtet. 19 Populationen in vier arktischen Ökoregionen gibt es.
Noch gibt es bis zu 25.000 Eisbären - schätzungsweise
Wie groß sie jeweils sind, lässt sich nur schätzen. Insgesamt dürften es derzeit noch zwischen 20.000 und 25.000 Tiere sein. Unmittelbar vom Aussterben bedroht ist der Eisbär mithin noch nicht. In den kälteren und weiter nördlich gelegenen Regionen des Nordpolarmeeres halten sich Eisbären meist auf dem geschlossenen Meereis auf, um dort an eisfreien Stellen und Atemlöchern Robben oder Walrösser zu jagen.
In den weiter südlich gelegenen Regionen der Arktis zwingt jedoch das im Sommer schmelzende Packeis die Eisbären an den Küsten an Land. Im offenen Wasser oder gar schwimmend können Eisbären keine Robben erbeuten. So müssen sie je nach Dauer der eisfreien Periode unterschiedlich lange Fastenperioden überstehen.
Doch die Arktis wird wärmer, das Eis schwindet. Im September 2020, am Ende des arktischen Sommers, wurden nur noch 3,8 Millionen Quadratkilometer gemessen, die zweitkleinste Fläche seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979.
[Der Klimawandel ist global, aber wirkt regional: Die weltweiten Hotspots der Klimakrise]
Die Eisbildung auf den offenen Wasserflächen beginnt später und verläuft langsamer, die Vereisung ist weniger ausgedehnt, das Eis wird dünner und schmilzt schneller.
Darunter leidet neben anderen Arten vor allem der Eisbär. Dass er nicht einfach dauerhaft von den einst zugefrorenen Eisflächen aufs Land ausweichen kann, wo ähnlich energiereiche Beutetiere wie Robben fehlen, zeigt seine Naturgeschichte: Als es am Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren mehr Meereis gab, war Ursus maritimus bis in den Ostseeraum verbreitet, wie zahlreiche Fossilfunde aus Dänemark, Schweden und Finnland belegen.
[Mehr Infos zum Klimawandel und der Wende in der Energiepolitik? Gibt's hier beim Tagesspiegel Background Klima und Energie]
Als sich dann das Klima erwärmte und sich das Meereis auf der Ostsee zurückzog, verschwanden die Bären wieder aus dieser Region, obgleich ihre Hauptnahrung – die Ringelrobbe – bis heute in der Ostsee lebt. Zur Robbenjagd reichte den Bären damals das schrumpfende baltische Meereis bald nicht mehr aus. Auch zukünftig wird den Eisbären deshalb eine erneute dauerhafte Rückkehr an Land nicht gelingen.
Eisbären müssen heute dreimal so viel Fläche bejagen wie noch in den 1980ern
Untersuchungen in der Beaufort-See nördlich von Alaska und Kanada zeigen, dass die Jagdreviere der Eisbären dort heute bis zu dreimal so groß sind wie noch in den frühen 1980er Jahren und die Hungerperiode bereits 127 Tage überschreitet.
Sie müssen heute zur Jagd also bis zu drei Mal so weite Strecken zurücklegen wie früher und dabei länger hungern. Das zehrt an ihren Kräften. Die längeren Wanderungen verschlechtern die körperliche Fitness der erwachsenen Bären; die fehlende Eisbedeckung dehnt ihre Hungerperioden aus – was bei den Weibchen dazu führt, dass weniger Junge geboren werden, die weniger lange gesäugt werden.
Aus der Zahl der Fastentage wiederum lassen sich unter verschiedenen Klimaszenarien präzise Vorhersagen darüber ableiten, wie sich die Bestände der Eisbären in einzelnen Regionen rund um das Nordpolarmeer in den kommenden Jahrzehnten entwickeln werden.
Für ihre Studie hat das Team um den kanadischen Ökologen Peter Molnar die Bestandsentwicklung einiger Populationen aus den Jahren 1979 bis 2016 zu Grunde gelegt. Sie haben zudem, ausgehend von einer repräsentativen Population in der westlichen Hudson Bay, einen Schwellenwert für die Dauer der Fastentage ermittelt, die Eisbären hungern können, ohne dass die Sterblichkeit in der Population ansteigt und die Nachwuchsrate sinkt.
Dabei zeigte sich, dass die körperliche Fitness (etwa das Körpergewicht) während sich verlängernder Hungerzeiten bei den Weibchen an der Hudson Bay bereits deutlich sinkt, um die Jungen ausreichend lange zu säugen. Daher sinkt dort die Nachwuchsrate.
Lediglich Eisbären weit im Norden dürften das Jahr 2100 erleben
Solche Zusammenhänge und Trends, die in den einzelnen Populationen rund um die Arktis durchaus regional unterschiedlich ausfallen, wurden dann in verschiedenen Klima-Simulationen für 13 ausgewählte Eisbärbestände hochgerechnet. Der zentrale Befund dabei: Selbst bei einer nur mittleren Klimaerwärmung von etwa plus drei Grad werden am Ende des laufenden Jahrhunderts von den 13 genauer untersuchten immerhin 12 Populationen sehr wahrscheinlich verschwunden sein.
[Der Autor Matthias Glaubrecht ist Evolutionsbiologe und Professor für Biodiversität der Tiere der Universität Hamburg und Verfasser des Buches „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“.]
Ist der Schwellenwert der Fastenzeit einmal überschritten, geht die Entwicklung rasant und dann reichen bereits einige wenige extrem eisfreie Jahre aus, um die Bestände so zu dezimieren, dass ein Aussterben der Art unvermeidlich ist. Lediglich Eisbären sehr weit im arktischen Norden würden demnach das Jahr 2100 erleben.
Was für den Eisbär jetzt belegt ist, das ist indes nur ein Beispiel für das millionenfache Artensterben. Den großen und beliebten Säugetieren wie Eisbär, Elefant, Tiger und Nashorn wird ein Heer weitgehend unbekannter Arten folgen, warnen Biologen. Bis zu einer Million Arten werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aussterben, so die düstere Prognose des Weltbiodiversitätsrats IPBES.
Matthias Glaubrecht