Kontroverse um Spiegelneuronen: Überschätzte Universaltalente
Spiegelneuronen gelten als Basis für Mitgefühl, Kultur und Sprache. Doch immer mehr Forscher haben Zweifel, ob der Hype überhaupt gerechtfertigt ist. Denn die Belege sind widersprüchlich.
Spiegelneuronen sind so etwas wie Popstars der Neurowissenschaft. Was hat man ihnen nicht alles angedichtet: Angeblich verstehen wir mit ihrer Hilfe, was andere Menschen fühlen. Sie sorgen dafür, dass wir uns vom Gähnen unseres Gegenübers anstecken lassen und bei Wettkämpfen mit den Sportlern mitfiebern. Sie sollen sogar dazu beitragen, das Verstehen von Sprache zu erklären. Immer neue Talente wurden ihnen zugeschrieben. Gleichzeitig bildete sich unter Forschern ein Chor von Zweiflern.
Alles hatte 1992 begonnen. Ein Team um den italienischen Neurophysiologen Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma machte durch einen Zufall eine aufsehenerregende Entdeckung. Bei einem Makakenäffchen untersuchte es Neurone in einem Areal der Großhirnrinde, das für zielgerichtete Handbewegungen zuständig ist. Doch die Zellen waren nicht nur aktiv, wenn das Tier selbst nach Früchten griff. Sie regten sich auch dann, wenn es solche Bewegungen lediglich beobachtete.
Rizzolatti und seine Kollegen bezeichneten die entsprechenden Nervenzellen als Spiegelneurone. Denn augenscheinlich spiegelten die Nervenzellen des Tiers das Gesehene, indem sie es innerlich nachahmten – ganz so, als würde das Äffchen die Bewegung selbst ausführen. Möglicherweise tragen die Zellen so zum Verständnis der beobachteten Aktion bei, spekulierten die Wissenschaftler damals.
Spärliche Belege, weitreichende Schlussfolgerungen
Zwar gibt es bis heute nur einzelne direkte Belege dafür, dass Menschen überhaupt Spiegelneuronen haben. Denn nur in Ausnahmefällen kann man bei menschlichen Versuchspersonen die Aktivität einzelner Zellen mithilfe von haarfeinen Elektroden ableiten. Dennoch trauten Forscher den Nervenzellen immer mehr zu. Zu viel, meinen Skeptiker wie der Hirnforscher Gregory Hickok von der Universität von Kalifornien in Irvine. In seinem Buch „Warum wir verstehen, was andere fühlen“, das im Hanser-Verlag erschienen ist, entlarvt er den Mythos. Er hat zahlreiche Unstimmigkeiten in den Theorien der Spiegelneuronen-Verfechter zusammengetragen, die allzu weitreichende Schlussfolgerungen fragwürdig erscheinen lassen.
Auf den ersten Blick scheinen empirische Befunde die Theorie zu stützen, dass Spiegelneurone etwas Wesentliches zum Verständnis von Handlungen beitragen. Menschen mit der Bewegungsstörung Apraxie zum Beispiel sind nicht nur unfähig, selbst zielgerichtete Bewegungen auszuführen. Angeblich fällt es ihnen auch schwerer als Gesunden, die Handlungen anderer zu verstehen. Hickok hat die Untersuchungen noch einmal genauer analysiert und weist darauf hin, dass einzelne Apraxiepatienten in den Studien durchaus fremde Handlungen nachvollziehen konnten. Diese Fähigkeit setze offensichtlich nicht voraus, die Aktionen selbst ausführen zu können. Außerdem seien Menschen durchaus in der Lage, die Bedeutung von Bewegungen zu begreifen, die sie selbst nicht beherrschen, etwa das Spielen auf einem Saxofon oder einem Klavier.
Die Funktion der Spiegelzellen ist nicht geklärt
Zudem sind Spiegelneurone selbst dann aktiv, wenn hinter Bewegungen überhaupt keine Absichten stecken. Das fand der Neurowissenschaftler Kai Vogeley von der Uniklinik Köln heraus. Während seine Testpersonen im funktionellen Magnetresonanztomografen lagen, sahen sie auf einem Bildschirm Bewegungen von animierten Figuren, die sie als leblos wahrnahmen. Trotzdem regte sich das vermutete Spiegelneuronensystem. „Welche Funktion Spiegelneuronen haben, ist eine offene Frage“, sagt Vogeley. „Beim Menschen sind wohl zwei Netzwerke für soziale Wahrnehmung wichtig: das Spiegelneuronensystem und das soziale neuronale Netzwerk um den medialen präfrontalen Kortex.“
Das Sprachverständnis hing vom Hören ab, nicht von der Schädigung im Spiegelneuronensystem
Das Spiegelneuronensystem sei dabei möglicherweise eine frühe Verarbeitungsstufe in der sozialen Wahrnehmung. „Wahrscheinlich können wir durch seine Aktivität die Bewegung eines Mitmenschen nachvollziehen, indem wir ihn innerlich imitieren oder simulieren.“ Es sei allerdings eine berechtigte Frage, ob es sich dabei schon um ein echtes Verstehen der Bewegung im Sinne der Handlungsabsicht handele. Möglicherweise tragen Spiegelneurone also zwar dazu bei, Bewegungen anderer zu registrieren und innerlich nachzuahmen. Die soziale Bedeutung und Intention der Handlung interpretiert dagegen offenbar das soziale neuronale Netzwerk.
Eine andere Annahme steht ebenfalls auf tönernen Füßen. Beim Menschen gilt das Broca-Areal im Frontallappen als Entsprechung des Spiegelneuronensystems bei Affen. Diese Hirnregion ist an der Erzeugung von sprachlichen Äußerungen beteiligt. Daher vermuteten einige Forscher, die Hirnregion könne eine wichtige Rolle beim Verstehen von Sprache spielen. Sie würde gewissermaßen die sprachlichen Äußerungen unserer Mitmenschen innerlich nachspielen.
Gregory Hickok fühlte der Theorie vor einigen Jahren etwas näher auf den Zahn. Er untersuchte Patienten mit Broca-Aphasie, einer Sprachstörung aufgrund einer Schädigung dieses Areals. Wie erwartet hatten seine Probanden Schwierigkeiten, sich zu artikulieren. Doch sie verfügten über ein gutes Sprachverständnis. Verständnisschwierigkeiten machten sich erst bemerkbar, wenn bei ihnen außerdem Hirnregionen geschädigt waren, die für das Hören wichtig sind. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte Hickok in einer noch unveröffentlichten Studie mit fast 60 Schlaganfallpatienten. Der Hirnforscher glaubt daher, dass das motorische Sprachsystem mit den vermuteten Spiegelneuronen nicht notwendig sei für das Verständnis von Sprache.
Funktionieren bei Autisten die Spiegelneuronen nicht richtig?
Kontrovers wird mittlerweile auch die Rolle von Spiegelneuronen bei Autismus diskutiert. Einer weit verbreiteten Annahme zufolge sind Betroffene gewissermaßen blind gegenüber den mentalen Zuständen ihrer Mitmenschen. Sie könnten die Absichten anderer nicht erfassen. Dieses Unvermögen brachten einige Forscher mit einem gestörten Spiegelneuronensystem in Verbindung, das Menschen normalerweise ermögliche, sich in andere hineinzuversetzen.
Doch auch hier wecken Untersuchungen erhebliche Zweifel. Die Neurowissenschaftlerin Antonia Hamilton von der Universität von Nottingham sichtete 2013 etliche Studien zu dem Thema für das Fachblatt „Developmental Cognitive Neuroscience“. Ihr Fazit: „Es gibt wenig Hinweise für eine umfassende Störung des Spiegelneuronensystems bei Autismus.“ Hingegen häufen sich die Hinweise, dass viele Menschen mit Autismus gar keine Probleme haben, die Handlungen anderer zu verstehen. Die Kontroverse um die Spiegelneuronen wird wohl weitergehen.
Christian Wolf
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