Psychologie-Weltkongress: Die einsame Welt des Autisten
Mit ihrer Entdeckung der "Spiegelzellen" werfen Hirnforscher ein neues Licht auf das Rätsel der Krankheit.
Es war etwas, das sich als Jahrhundertentdeckung herausstellen könnte. Zuallererst stieß eine kleine Gruppe von Hirnforschern um den heute 71-jährigen Italiener Giacomo Rizzolatti auf die Sache, in der beschaulichen Stadt Parma. Was sie vor gut 15 Jahren erstmals beobachteten, war so ungewöhnlich, dass sie lange nicht begriffen, womit sie es zu tun hatten. Zahlreiche Wissenschaftler sind dem Phänomen seither auf den Grund gegangen und sprechen von einer Sensation. Der US-Neurologe Vilayanur Ramachandran hat die Entdeckung sogar mit der der DNS-Doppelhelix verglichen.
Die Rede ist von den „Spiegelneuronen“, Zellen unseres Gehirns, die das Verhalten anderer Menschen spiegeln und so die Basis für Mitgefühl sein könnten.
Vergangene Woche stellte Rizzolatti seine Entdeckung auf dem Internationalen Psychologiekongress in Berlin in einem Saal mit gut 600 Leuten vor. Rizzolatti, ganz in Schwarz, graues, wirres Haar, grauer Schnurrbart, erinnert ein bisschen an Einstein.
Mithilfe einiger Videos demonstrierte er, wie es zur Entdeckung kam. Und zwar hatte man eine hauchdünne Messelektrode in das Gehirn eines Affen geführt. Die Elektrode registrierte die Aktivität einer einzelnen Hirnzelle. Griff der Affe zu einer Nuss, „feuerte“ die Zelle wie verrückt. Offenbar war das Neuron – als Teil eines Netzwerks – auf die Steuerung von Greifbewegungen spezialisiert.
Alles nichts Besonderes. Bis das Merkwürdige geschah: Während sich die Messelektrode noch im Kopf des Affen befand, griff einer der Forscher selbst zu einer vor dem Affen liegenden Nuss. Und auch jetzt feuerte die Hirnzelle des Affen – obwohl der seinen Arm nicht im Geringsten bewegt hatte. Wie es schien, war dieses Neuron nicht nur an der Steuerung des eigenen Arms beteiligt, sondern wurde auch aktiv, wenn der Affe die gleiche Armbewegung bei einem Gegenüber sah. Die erste Spiegelzelle war entdeckt.
Dann ging es Schlag auf Schlag. 1999 entdeckte der Neuroforscher William Hutchison von der Universität Toronto vor einer Hirnoperation: Auch wir Menschen haben in unserem Kopf Spiegelzellen. Hutchisons Patientin hatte einige feine Elektroden in ihrem vorderen Großhirn. In einem Test stach der Forscher der Patientin in den Finger, woraufhin sich eines der Neuronen regte, als sei sie eine Zelle, die Schmerz registriert. Dann stach sich Hutchison vor den Augen der Patientin selbst eine Nadel in die Haut – und auch jetzt feuerte die Zelle im Kopf der Frau: Es war, als wäre der Schmerz des Mannes zu ihrem Schmerz geworden.
Und das scheint die zentrale Funktion der Spiegelzellen zu sein: Sie reflektieren das, was in unseren Mitmenschen vor sich geht. Sobald wir sehen, wie jemand nach etwas greift, Schmerzen spürt oder lacht, werden jene Areale in unserem Kopf aktiv, die normalerweise feuern, wenn wir selbst nach etwas greifen, Schmerzen spüren oder lachen: Wir teilen das, was unseren Mitmenschen passiert, ganz unmittelbar, indem wir es in unserem Kopf simulieren.
Dies und mehr stellte Rizzolatti in seiner Präsentation vor. Und ging auf eine Gruppe von Patienten ein, bei denen es just an dieser Spiegelfähigkeit zu hapern scheint: Autisten. Menschen also, die abgekapselt in ihrer eigenen Welt leben.
In einem seiner Versuche testeten Rizzolatti und sein Team sowohl normale als auch autistische Kinder zwischen fünf und neun Jahren. Zunächst hatten sie den Kindern kleine Messfühler aufs Kinn geklebt, um die Aktivität der Mundmuskulatur zu messen. Dann sollten die Kleinen zu einem Stück Schokolade greifen, das vor ihnen lag. Es offenbarte sich ein klarer Unterschied zwischen den normalen und den autistischen Kindern. Bei den normalen Kindern zuckte die Mundmuskulatur schon, als sie nach dem Stück Schokolade griffen. Sie hatten die Schokolade noch gar nicht zum Mund geführt, da war dieser schon dabei, sich auf die Schokolade zu freuen!
Ganz anders die Situation bei den autistischen Kindern: Als sie zur Schokolade griffen, regte sich der Mund überhaupt nicht. Natürlich wussten die Kinder, dass sie die Schokolade gleich essen würden, aber dieses Wissen schien nicht bis zum Körper der autistischen Kinder durchzudringen, zumindest nicht bis ganz zuletzt: Erst als sie die Schokolade bis kurz vor den Mund geführt hatten, regte sich die Muskulatur.
Erst jetzt, in einer zweiten Variante des Versuchs, ging Rizzolatti dem Spiegelsystem der Kinder auf den Grund. Jetzt sollten die Kinder, immer noch mit Elektroden auf dem Gesicht, nicht selbst zur Schokolade greifen, sondern beobachten, wie einer der Forscher das tat. Wieder zeigte sich ein frappierender Unterschied zwischen den Kindern. Bei den normalen regte sich – vermutlich über das Spiegelsystem im Kopf – die Mundmuskulatur auch diesmal. Bei den autistischen Kindern regte sich der Mund dagegen überhaupt nicht. „Bei Autisten wird der andere kein Teil des Selbst, er bleibt reine Außenwelt“, sagte Rizzolatti.
Autisten nehmen keinen Augenkontakt mit anderen Menschen auf. Überhaupt scheinen sie sich kaum für ihre Mitmenschen zu interessieren. Liegt das daran, dass ihr Gehirn ihre Mitmenschen nicht spiegelt? Sobald wir sehen, wie jemand lacht, spüren wir sofort, wie es ihm ergeht, weil Teile unseres Gehirns aktiviert werden, die üblicherweise dann feuern, wenn wir selber lachen. Wie mag es sich anfühlen, wenn dies nicht passiert? Wenn man jemand lachen sieht, aber sich im Innersten nichts regt? Die soziale Welt müsste einem zutiefst verschlossen bleiben, ja total fremd. Und genau so scheint es für autistische Menschen zu sein.
Noch ist es eine stark umstrittene Hypothese. Noch ist das Phänomen Autismus nicht enträtselt. Rizzolatti selbst gab in seinem Vortrag zu: Mithilfe der Spiegelzellen ließen sich wohl nicht alle Aspekte von Autismus erklären. Schon aber munkelt der eine oder andere Kollege: Sollte sich herausstellen, dass Autismus entscheidend durch mangelndes Spiegeln verursacht wird, dann hätte Rizzolatti noch etwas mit Einstein gemeinsam: Er wäre ein Kandidat für den Nobelpreis.
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