Experimente eines Heilpraktikers: Tod nach alternativer Krebstherapie
Die Krebspatienten suchten sanfte Medizin - und bekamen von ihrem Heilpraktiker einen völlig ungeprüften Wirkstoff. Mindestens drei starben kurz danach. Die Hintergründe zum Skandal im niederrheinischen Brüggen.
100 Prozent natürlich und effektiv sei seine Behandlung, versprach Klaus Ross auf seiner Webseite. Sie sei „frei von toxischen – also giftigen – Substanzen“ und verursache „minimale bis gar keine Nebenwirkungen“. Viele verzweifelte Krebskranke wollten an seine Wundertherapie im „Biologischen Krebszentrum Bracht“ glauben. Sie verehrten Ross, heißt es. Schließlich sei er einer, der sich kümmert. Doch der Mann, der sich gern im weißen Kittel fotografieren ließ, ist kein Arzt, sondern ein Heilpraktiker. Die Staatsanwaltschaft Krefeld ermittelt gegen ihn wegen fahrlässiger Tötung in drei Fällen und fahrlässiger Körperverletzung von zwei Kranken, die nach lebensbedrohlichen Beschwerden noch ärztlich behandelt werden. Insgesamt seien 69 Patienten der Praxis gestorben. Der Kreis Viersen hatte Ross seine Tätigkeit bereits Anfang August untersagt.
Was hinter der Fassade des Backsteinhauses in Brüggen tatsächlich geschah, versucht derzeit eine 20-köpfige Sonderkommission zu rekonstruieren. Sicher ist, dass Ross für 9900 Euro eine zehnwöchige Krebstherapie mit ungeprüften Substanzen anbot und Ende Juli mindestens drei Krebspatienten aus den Niederlanden und Belgien wenige Stunden bis Tage nach den Infusionen gestorben sind. Er soll ihnen 3-Bromopyruvat (3BP) ins Blut verabreicht haben. Ein synthetisch hergestellter Stoff, der weder als Arzneimittel zugelassen ist, noch durch aufwendige Studien am Menschen auf Giftigkeit und Effektivität erprobt wurde. Spiegel Online berichtete, dass er zudem vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte als gefährlich eingestufte „Miracle Mineral Supplement-Produkte“ anbot.
Der "Warburg-Effekt" ist bei Alternativheilern beliebt
Tatsächlich diskutieren unter anderem Forscher der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, ob sich 3BP sich als Wirkstoff gegen Krebs eignet. Die Idee dahinter klingt plausibel: Jede Zelle des Körpers braucht Zucker – es ist ihr schnellster Energielieferant. Weil Tumore rasant wachsen, benötigen sie bedeutend mehr Energie als normale Zellen. 3BP soll diese Energielieferung unterbinden.
Die Zuckerabhängigkeit von Tumoren hat bereits der Nobelpreisträger Otto Warburg vor rund 100 Jahren beschrieben. Dieser „Warburg-Effekt“ ist bei Alternativheilern beliebt und wird als Argument für zuckerfreie Diäten genannt. Ärzte dagegen raten davon dringend ab – die Diäten schwächen Krebskranke zusätzlich. Nun setzen einige Heilpraktiker auf 3-Bromopyruvat.
Wenn Zucker in Energie umgewandelt wird, entsteht in einem ersten Schritt Pyruvat. Das ist nicht nur ein einfaches Zwischenprodukt. Sobald es in höheren Mengen eine Zelle überschwemmt, dient es ihr als Sensor – und sorgt dafür, dass kein Zucker mehr verarbeitet wird. Täuscht man einer Tumorzelle also vor, es wäre ausreichend Pyruvat vorhanden, blockiert man ihre Energiezulieferung und hungert sie aus. 3-Bromopyruvat hat zudem weitere Eigenschaften, die die Zelle schädigen können.
Nicht einmal die Verträglichkeit für den Menschen ist belegt
Eine der wenigen Experten, die sich mit der Wirkung von 3BP auf Krebszellen auseinandersetzen, ist Ingrid Herr, Leiterin der Sektion Chirurgische Forschung an der Uniklinik Heidelberg. „Wissenschaftlich gut erforscht ist seine Wirkung gegen Leberkrebs in Tieren“, sagt sie. Beim Menschen sind jedoch nur zwei Heilversuche in der Fachliteratur dokumentiert. Sie kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Es gebe nicht einmal Studien an gesunden Probanden, die die grundsätzliche Verträglichkeit für den Menschen belegen.
Und so weiß man fast nichts über mögliche Nebenwirkungen. Müdigkeit und Erschöpfung gehörten dazu, sagt Herr. Beides sei kein Alarmsignal für eine todbringende Gefahr. Forscher gehen bisher davon aus, dass 3BP das Gehirn nicht schädigen kann, weil es nicht einmal die Blut-Hirn-Schranke überwindet. Doch die Patienten, die Klaus Ross behandelte, sollen unter schweren Schwindelgefühlen, Übelkeit, Verwirrtheit, Krämpfen gelitten haben. Endgültige Obduktionsergebnisse stehen noch aus. Die Ermittler warten auf die Befunde pharmakologischer und toxikologischer Tests. Sie sind skeptisch, ob 3BP noch nachweisbar ist.
War der Stoff zu hoch dosiert? Gab es Verunreinigungen?
Das Problem liegt möglicherweise woanders: „3BP kann man problemlos in größeren Mengen und relativ preiswert im Internet bestellen“, sagt Herr. Dann wisse man allerdings nichts über die Qualität des Rohstoffs. Die Forscherin glaubt, dass das verabreichte 3BP entweder zu hoch dosiert oder verunreinigt gewesen sein könnte. Das bestätigt die Staatsanwaltschaft. „Es gibt die Arbeitsthese, dass mit dem Wirkstoff etwas nicht in Ordnung war“, sagte Oberstaatsanwalt Axel Stahl am Freitag in Mönchengladbach. Auch ein Bericht der niederländischen Zeitung „De Telegraaf“ weist darauf hin. Ross habe aus Kostengründen nicht mehr fertige Infusionen, sondern Pulver bestellt und es selbst angemischt, sagt dort der ehemalige Mitbegründer des alternativen Krebszentrums, André Hartel. „Ich glaube, er hat eine hohe Dosis 3BP bei der Herstellung eingesetzt.“
Unklar ist auch, ob die verstorbenen Patienten weitere Substanzen eingenommen hatten. Substanzen, die sie von ihren Ärzten verordnet bekamen. Viele Mittel, die als sanft und natürlich gelten, beeinflussen den Stoffwechsel gravierend. Gingseng-Tee oder -Präparate zum Beispiel senken die Wirksamkeit von Blutverdünnern wie Warfarin. Menschen, die an Herzkreislauferkrankungen leiden, riskieren damit einen Schlaganfall. Eine Studie belegt, dass 3BP die Toxizität des Brustkrebsmittels Tamoxifen erhöhen kann.
Fast jeder kann Heilpraktiker werden - selbst mit Hauptschulabschluss
Der Fall um den Heilpraktiker Klaus Ross wirft daher grundlegende Fragen auf. Denn in Deutschland kann jeder Heilpraktiker werden. Einzige Voraussetzungen: ein Hauptschulabschluss, ein Gesundheitszeugnis, gegebenenfalls eine gültige Aufenthaltsgenehmigung und 25 Lebensjahre. Wie man sich das nötige Wissen aneignet, ist jedem selbst überlassen. Zwar gibt es Heilpraktiker-Schulen, doch besuchen muss man diese nicht. Ausschlaggebend für das Recht, als Heilpraktiker Patienten zu betreuen, ist ein Multiple Choice Test mit 60 Fragen und eine mündliche Prüfung beim Gesundheitsamt. Dabei geht es um anatomische Kenntnisse, um die Zuordnung von Laborwerten und mögliche psychiatrische Erkrankungen. Ist die Prüfung bestanden, dürfen frisch gebackene Heilpraktiker Injektionen setzen, Infusionen anlegen, Eigenbluttherapien durchführen oder psychisch Kranke therapieren – im Zweifel ohne je zuvor einen Patienten gesehen zu haben. Ärzten ist das erst nach einem mehrjährigen Studium gestattet.
Zwischen Verschwörungstheorien und Impfangst
Die Autorin Anousch Mueller wollte selbst Heilpraktikerin werden. In ihrem Buch „Unheilpraktiker“ (erschienen im Riemann-Verlag) beschreibt sie, wie sie die Vorgänge an einer Berliner Heilpraktikerschule zunehmend an der Ausbildung zweifeln ließen. Es seien Verschwörungstheorien und Impfangst geschürt worden. „Es wurden sogar Handgriffe vorgeführt, die gesetzlich verboten sind“, sagt sie. So wurden dort Neuraltherapien in die Bauchhöhle vorgenommen. Dabei wird ein lokales Betäubungsmittel durch die Bauchdecke injiziert, um „Störfelder“ durch chronische Entzündungen zu beheben. Weil das immer wieder zu schweren Komplikationen führt, ist das Heilpraktikern seit 2006 nicht mehr erlaubt.
Klaus Ross dagegen durfte 3BP erwerben und er durfte das experimentelle Mittel seinen Patienten geben. Denn das 1939 eingesetzte Heilpraktikergesetz gilt bis heute. Es wird nur durch Durchführungsverordnungen der Länder geregelt. Demnach ist Heilpraktikern die Verordnung von verschreibungspflichtigen Medikamenten oder die Behandlung von Infektionskrankheiten untersagt. Sonst aber dürfen sie, was sonst Ärzten vorbehalten ist: in Heilversuchen unerprobte Substanzen verabreichen.
Ärzte brauchen für einen Heilversuch wissenschaftlich fundierte Gründe
Für Mediziner sind solche Heilversuche eine Ausnahme. Sie werden nur dann erwogen, wenn alle anderen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. An diese Einschränkung hielt sich der Brüggener Heilpraktiker nicht immer: Zwar war ein Großteil der Patienten nicht mehr behandelbar – aber nicht alle. Ärzte sind zudem durch ihre Berufsordnung verpflichtet, Heilversuche nur anzubieten, wenn es wissenschaftlich fundierte Gründe dafür gibt. Heilpraktiker nicht.
Immer wieder werden daher Änderungen am Heilpraktikergesetz gefordert. In den Niederlanden zum Beispiel dürfen Heilpraktiker keine Therapie mit experimentellen Mitteln anbieten. Auch die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens hat nach Angaben ihres Ministerium bereits vor Jahren Zugangsregeln sowie einheitliche Prüfungs- und Ausbildungsordnungen angemahnt. Beim Bundesgesundheitsministerium verweist man spröde auf die Zuständigkeit der Länder. Von einem Änderungswille ist nichts zu spüren.
Niemand erfasst die Klagen über Heilpraktiker - oder mögliche Behandlungsfehler
Dabei sagt selbst Ursula Hilpert-Mühlig vom Fachverband deutscher Heilpraktiker, dass eine geregelte Ausbildung im Sinne des Verbands sei. „Nur sollte sie vom Berufsstand selbst geregelt werden“, fügt sie hinzu. Damit wären die Inhalte der Ausbildung staatlicher Kontrolle entzogen. Zudem gibt derzeit 13 Heilpraktikerverbände. Nur fünf von ihnen haben sich in einem übergreifenden Dachverband zusammengeschlossen, der eine Berufsordnung verfasst hat. Allerdings ist sie rechtlich nicht bindend. Wer sich nicht daran halten will, tritt einfach einem anderen Verein bei. So wie Klaus Ross.
Klagen über Heilpraktiker und mögliche Behandlungsfehler werden in Deutschland auch nicht systematisch erfasst. Es gibt nicht mal ein Register, in dem Heilversuche gemeldet werden müssen. An die Öffentlichkeit kam der Fall um das „Biologisches Krebszentrum Bracht“ nur, weil eine der Patientinnen, die dort therapiert worden war, mit Krämpfen und Verwirrtheitszuständen in ein Krankenhaus in Mönchengladbach eingeliefert wurde. Dort wurden die Ärzte aktiv. Sie informierten das zuständige Gesundheitsamt in Viersen und die Polizei. Für die Niederländerin war das zu spät. Sie starb noch am nächsten Tag.
Klaus Ross hat derweil „im Wesentlichen pauschal bestritten, dass etwas falsch gelaufen sei“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am Freitag vor Journalisten in Mönchengladbach.
Edda Grabar