Digitale Medizin: Therapie mit Daten
Patientendaten bringen die Forschung voran. Doch viele Deutsche wollen sie Ärzten nicht zur Verfügung zu stellen.
Mal ist es eine App auf dem Smartphone, die beim gesunden Lebensstil unterstützt. Mal nutzt ein Computerprogramm Daten über Genmutationen, um die beste Therapieoption für einen Krebspatienten zu errechnen. In jedem Fall sind gesundheitsrelevante Daten so wertvoll geworden, dass die Politik nun die Rahmenbedingungen für deren Nutzung schafft.
Gesundheitsdaten für die Forschung? Das wollen nur 42 Prozent der Deutschen
Anfang Juli präsentierte Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) in Berlin vier mit insgesamt 120 Millionen Euro ausgestattete Forschungsverbünde. Sie sollen bis 2022 die Grundlagen für international vernetzbare Datenintegrationszentren schaffen. Dort sollen sämtliche Krankenhäuser Deutschlands die digitalisierten Befunde über ihre Patienten einspeisen. Zeitgleich kündigte die bayerische Staatsregierung den Start ihres Pilotprojekt zur Einführung der elektronischen Patientenakte im nächsten Jahr an – im Rahmen ihres insgesamt fünf Milliarden Euro umfassenden „Bayern Digital“-Programms. 120 000 Freiwillige sollen dazu ihre Daten beisteuern.
In der Bevölkerung stößt das wachsende Interesse an Gesundheitsdaten bislang auf Skepsis. Nur 42 Prozent der Deutschen wollen ihre medizinischen Daten anonymisiert für die Forschung zur Verfügung stellen, selbst wenn damit eine verbesserte Diagnose und Therapie von Krankheiten einhergeht – so eine Befragung von TNS Infratest, die 2016 in acht europäischen Ländern mit 8000 Europäern durchgeführt wurde. In Spanien sind hingegen 86 Prozent der Befragten willens, ihre Daten der Forschung zu spenden. Die Deutschen liegen 23 Prozentpunkte unter dem europäischen Mittelwert.
Neue Hypothesen zur Krankheitsentstehung
„Viele Bürger denken an die Gefahren eines unberechtigten Datenzugriffs auf ihre persönlichen Gesundheitsdaten“, sagt Krebsforscher Christof von Kalle, Leiter des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen in Heidelberg. „An die möglichen Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen infolge verstreuter Informationen, die Ärzten oft nicht zur Verfügung stehen, denken sie weniger.“ Unter diesem Aspekt sei die Digitalisierung der Patientendaten sehr wichtig. „Gerade in der Medizin bieten sich große Chancen, mithilfe von Big Data völlig neue Hypothesen zur Krankheitsentstehung aufzustellen und Patienten auf Basis der entdeckten Muster die optimale personalisierte Therapie zukommen zu lassen“, sagt Andreas Barner, Ex-Vorstandsvorsitzender des Arzneimittelentwicklers Boehringer Ingelheim und jetzt Berater der Bundesregierung bei der „Hightech-Strategie“.
Das Interesse der Pharmaindustrie an den Daten, die vor allem in der Krebsmedizin hilfreich sein können, ist groß. Anfang Juli gab Roche Diagnostics bekannt, dass die US-Mehrheitsbeteiligung Foundation Medicine (FMI) ein Labor im bayerischen Penzberg aufbauen wird. Das Unternehmen erfasst krebstypische Genmutationen in Gewebeproben von Tumoren. Ein Algorithmus errechnet dann mithilfe des in einer Datenbank mit 125 000 Krebsprofilen gesammelten verfügbaren Wissens aus Arzneimittelstudien, welche Therapie zu dem krebstypischen Genmutationsmuster eines Patienten am besten passt und den größten Erfolg verspricht. „Der Arzt bekommt einen Bericht, der bei der Therapieentscheidung hilft“, sagt Hagen Pfundner, Chef von Roche Deutschland.
Smartphone gibt Diabetikern Ernährungs-Tipps
Noch genauer wären solche Analysen, wenn die Algorithmen nicht nur Gensequenzen, sondern auch medizinische Befunde zur Mustererkennung und Interpretation nutzen könnten. In den USA haben Firmen wie die Google-Tochter Verily und Forschungsgruppen bereits begonnen, die Gen- und klinischen Daten von einer Million Freiwilligen im Rahmen der öffentlich geförderten Precision-Medicine-Initiative zu erheben. Momentan läuft eine Pilotstudie mit 10 000 Freiwilligen.
Solche Daten sind längst nicht nur für die Therapiewahl von Nutzen. Sie geben Forschern und Pharmafirmen auch Hinweise auf neue Therapieansätze oder Diagnostika. „Wir suchen in anonymisierten Daten großer Patientengruppen nach spezifischen Krebsmustern“, sagt Ursula Redeker, Sprecherin der Geschäftsführung von Roche Diagnostics. An Namen und persönlichen Daten, die für den behandelnden Arzt und das Krankenhaus freigegeben werden, habe man kein Interesse. „Wir streben auch kein Datenmonopol an, denn nicht die Daten, sondern deren intelligente Interpretation liefert uns die krebsrelevante Information.“
Gesundheitsbezogene Daten sind nicht immer nur Blutwerte, Gensequenzen oder Röntgenbilder. Auf dem Forum „Science&Health“ in München stellte der Vizechef der Gesundheitsabteilung von IBM Watson Health im Juli Pläne für eine neue Smartphone-App vor. Sie soll unter anderem Nutzer, die zu Zuckerkrankheit neigen oder bereits Diabetiker sind, bei der Wahl des Essens beraten. Lädt ein Zuckerkranker mit der App etwa ein Foto seines Essens in die Cloud hoch, analysiert IBMs Supercomputer Watson das Menü und errechnet mithilfe der medizinischen Daten vergleichbarer Diabetiker und der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur, wie das Essen sich auf den Blutzuckerspiegel und die langfristige Gesundheit auswirken würde. Rät die App von der Currywurst ab, dann macht sie auch Alternativvorschläge. Die Hoffnung ist, über die App den meist übergewichtigen Zuckerkranken und Prädiabetikern einen gesunden Lebensstil nahezulegen, der ihren Diabetes in etwa 40 Prozent der Fälle verhindern oder mildern könnte.
Macht strenger Datenschutz Deutschland zur "Digitalen Kolonie Amerikas"?
Damit auch deutsche Unternehmen und Wissenschaftler derartige Technologien entwickeln können, drängen einige Politiker auf Lockerung der Datenschutzregeln. „Heute dürfen Daten nur für den Zweck erhoben werden, der zuvor definiert wurde und dem der Patient zugestimmt hat“, sagt Jens Spahn (CDU), Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. „Nachdem der Zweck erfüllt worden ist, müssen die Daten gelöscht werden. Das ist nicht mehr zeitgemäß.“ Laut EU-Datenschutzgrundverordnung, die bald in deutsches Recht umgesetzt werden soll, darf der Patient seine Daten immerhin erstmals grundsätzlich für bestimmte Zwecke freigeben. „Der Oberbegriff der Datensparsamkeit steht heute über jedem Gesetz“, sagt Alexander Dobrindt (CSU), Bundesminister für Verkehr und Digitale Infrastruktur. „Wenn Daten aber die Grundlage für viele künftige Innovationen, die Wertschöpfung und Arbeit sind, dann müssen wir Sorge tragen, dass diese Wertschöpfung auch hier stattfinden kann.“ Man müsse sich fragen, ob man in der Innovation führend bleiben oder „digitale Kolonie Amerikas“ sein wolle.
Wissenschaftler sorgen sich hingegen um den Zugang zu den Daten, die zunehmend in den firmeneigenen Datenbanken von Google-Beteiligungen und -Ausgliederungen wie 23&me, Flatiron Health, FMI oder Verily gespeichert werden. „Daten, die mit Steuergeld oder Kassenbeiträgen erzeugt wurden, sollten öffentlich zugänglich sein“, mahnt Krebsforscher von Kalle. „Da Sequenzierungsdaten zur Geschäftsgrundlage von Unternehmen wie 23&me gehören, braucht es mehr staatlich geförderte Sequenzierungsprogramme“, fordert die Münchener Neurogenetikerin Juliane Winkelmann. „Die Genomsequenzierung ist die kostengünstigste Diagnostik, ihre Ergebnisse hat man für ein ganzes Leben.“
Hoheit über die eigenen Daten: Midata
So nützlich die Gesundheitsdaten auch sind, die Skepsis der Deutschen gegenüber dem richtigen Umgang von Firmen und Staat damit bleibt. Laut Bundesforschungsministerium ist in der nächsten Legislaturperiode ein Vorschlag für eine „unbestechliche Einrichtung“ zu erwarten, die über den Zugriff auf die sensiblen Daten wachen soll. Eine wichtige Frage wird sein, in welcher Form die Daten von Patienten gespeichert werden – anonymisiert oder nur pseudonymisiert? „Pseudonymisierung ist für die Forschung wichtig, denn sie erlaubt die Aktualisierung von Datensätzen“, sagt von Kalle. „Der zeitliche Verlauf einer Krebserkrankung gibt zum Beispiel zusätzliche Informationen, die für die Erforschung der Krankheitsmechanismen wichtig sind.“ Gesundheitsdaten müssen also geschützt sein und trotzdem für die Analysen genutzt werden können, sagt Barner. Die Datenanalyse sollte unabhängig von Unternehmen von Forschern durchgeführt werden.
In der Schweiz hat sich bereits die unabhängige Datenkooperative Midata gegründet. Dort behält jedes Mitglied die Herrschaft über die eigenen Daten und bestimmt, für welche Zwecke sie freigegeben werden. Aus den Erlösen des Datenzugriffs, für den Firmen an die Genossenschaft zahlen, finanziert die Kooperative gemeinsam beschlossene Forschungsvorhaben, die für Unternehmen nicht lohnend, aber die Patienten wichtig sind. Noch kennen wenige Patienten Midata. „Im Mittelalter hatten nur wenige ein Bankkonto, heute hat das jeder“, sagt aber der Gründer und Genetiker Ernst Hafen. Bald werde auch jeder sein eigenes Konto für Gesundheitsdaten haben.
Thomas Gabrielczyk