Debatte über Werbeverbot: Süßigkeiten sind keine Lebensmittel
Viele Unternehmen halten sich nicht an ihr Versprechen, Kindermarketing nur für ausgewogene Lebensmittel zu betreiben. Die Vorsitzende des Verbraucherausschusses, Renate Künast (Grüne), fordert einVerbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel.
Zu viel Zucker ist ungesund und macht krank. Daran hat wohl niemand mehr einen Zweifel. Und zu viele Kinder in Deutschland - rund 15 Prozent - sind zu dick. Aber auch in ärmeren Ländern sieht es beim Thema Fettleibigkeit von Kindern nicht viel besser aus. So leiden in Brasilien bereits über ein Drittel der Fünf- bis Neunjährigen an Übergewicht. Schuld daran sind Bewegungsmangel, falsche Ernährung und ein zu hoher Zuckerkonsum. Die Brasilianer verbrauchen pro Jahr und Kopf über 51 Kg Zucker, und auch in Deutschland und den USA liegt der Pro-Kopf-Zuckerverbrauch bei circa 30 Kilogramm jährlich und ist damit zu hoch.
Die Selbstverpflichtung ist eine Mogelpackung
Zwar gibt es seit dem Jahr 2007 wohlwollende Ansätze der Nahrungsmittelindustrie in Form von „freiwilligen Selbstverpflichtungen“ im Hinblick auf ihre Vermarktungsstrategien bei Kindern. Nur hat gerade die jüngste Foodwatch-Studie belegt, dass sich viele Unternehmen gar nicht an ihr Versprechen halten, Kindermarketing nur für ausgewogene Lebensmittel zu betreiben. Deshalb bezeichnet Dietrich Garlichs, der Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft, die Selbstverpflichtung als eine Mogelpackung und eine Verbrauchertäuschung und stellt zu Recht fest, dass die meisten beworbenen Kinderlebensmittel eben keine Lebensmittel, sondern ganz einfach nur Süßigkeiten sind, also keine Grundnahrungsmittel.
Die Lebensmittelindustrie steht vor einer grundsätzlichen Veränderung
Wer jetzt von Feldzügen gegen Genussmittel redet, reagiert unseriös. Selbst die Hersteller von hochverarbeiteten Lebensmitteln und zuckerhaltigen Softdrinks - die insbesondere Kinder konsumieren - wissen, dass sie die weltweiten wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr ignorieren können. So werben heute schon Coca Cola oder Fanta mit "weniger Zucker". Das ist erst der Anfang einer grundsätzlichen Veränderung, vor der die Lebensmittelindustrie steht. Nicht zu vergessen, dass auch die UN sich inzwischen voller Sorge intensiv mit den nicht übertragbaren Krankheiten beschäftigt. Tabak, Alkohol und unsere Ernährungsweise (industrial global diet) werden als die zentralen Risikofaktoren für nichtübertragbare Erkrankungen bezeichnet. Was für uns beim Tabak und Alkohol inzwischen selbstverständlich ist, sollte bei unserer Ernährungsweise nicht mit Klischees vom Tisch gewischt werden: Wir brauchen einen überlegten Umgang mit unseren Mitteln zum Leben und ihren Auswirkungen auf unsere Gesundheit.
Wir brauchen einen ganzheitlichen politischen Ansatz
Jetzt ist die Politik gefragt, die weder die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) belegte stetig steigende Zahl von übergewichtigen Kindern weltweit, noch die Ergebnisse der aktuellen Foodwatch-Studie ignorieren darf. Was wir brauchen, ist ein ganzheitlicher politischer Ansatz: Angefangen bei einer gesunden und ausgewogenen Schulverpflegung bei der Kinder früh lernen, wie wichtig gesundes Essen ist, wie es schmeckt und zubereitet wird. In diesem Zusammenhang müssen wir auch das Wissen der Deutschen Diabetes Gesellschaft mit einbeziehen.
Außerdem sollte es keine Lebensmittelwerbung an Kinder unter 12 Jahren geben, wenn die Produkte nicht den Kriterien der WHO für ausgewogene Ernährung entsprechen. Denn wenn die freiwilligen Selbstverpflichtungen der Industrie versagen, bedarf es verbindlicher Regelungen. Werbung muss aber immer auch die Wahrheit sagen und Süßigkeiten dürfen eben nicht als leckeres und gesundes Frühstück beworben werden, sondern als das was sie sind - Genussmittel.
Wir müssen unseren Umgang mit Nahrungsmitteln überdenken
Und wir müssen unseren Umgang mit Nahrungsmitteln überdenken. Denn wir haben immer mehr hochverarbeitete Lebensmittel und die Industrie nutzt bei der Herstellung die Kultur des Kaufs billiger Rohstoffe wie Zucker aus Ländern wie Brasilien oder Mexiko. Aber das ist nicht gesund. Denn zu viel Zucker kann nicht nur zu Adipositas, sondern auch zu Herzkrankheiten, Leber- und Stoffwechselproblemen, Fettsucht und chronischen Krankheiten führen. Und das betrifft uns alle – Kinder und Erwachsene, weltweit.
Ernährung als neue soziale Frage
Ernährung ist aber auch eine soziale Frage. Ungesunde Ernährung und Übergewicht korrelieren mit schlechteren Bildungschancen und weniger gesellschaftlicher Teilhabe. Und Armut erhöht das Diabetesrisiko. Denn arme Menschen ernähren sich häufiger falsch und sind damit auch häufiger adipös oder krank. Deshalb gibt es auch in Schwellenländern immer mehr dicke Menschen. Vor allem Kinder, die unter Übergewicht leiden, erfahren bereits früh gesellschaftliche Ausgrenzung und bekommen ihr Gewicht nur selten wieder in den Griff. Der Start in ein gesundes Leben wird damit für sie umso schwieriger.
Adipositas eine globale Epidemie
In 2014 gab es bereits 1,9 Milliarden Menschen auf der Welt, die zu dick sind, davon 600 Millionen Fettleibige. Allein in Europa beliefen sich im Jahr 2010 die Kosten des Gesundheitssystems für Adipositas und die Begleiterkrankungen auf ca. 17 Milliarden Euro. Nicht umsonst hat die WHO jüngst eine striktere Leitlinie für den Zuckeranteil in der Ernährung eingeführt. Statt bisher 10 % soll der Anteil versteckten Zuckers möglichst nur noch bis zu 5 % betragen, so dass Erwachsene pro Tag nicht mehr als 25 Gramm Zucker, also 6 Teelöffel, konsumieren sollten.
Die WHO stuft Adipositas als das am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem weltweit ein und spricht von einer globalen Adipositasepidemie. Eine globale Epidemie braucht eine wachsame und entschlossene Gesellschaft und eine Industrie, die bereit ist ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Schauen wir uns die USA an. Prognosen gehen davon aus, dass 65 % der US-Bürger bis zum Jahr 2030 Übergewicht haben werden und über 150 Millionen Adipositas. Mit enormen sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen! Nicht von ungefähr engagiert sich Michelle Obama für dieses Thema.
Appelle reichen nicht aus
Aber reine Appelle an individuelle Verhaltensänderungen reichen nicht aus. Wir müssen die Ernährungsumwelt für Kinder und Erwachsene ändern, denn ohne Vorbild geht gar nichts. Von guter Schulverpflegung, besseren Kantinen, Restaurants mit besseren Kinderangeboten über wahrhaftige Werbung bis hin zu den verarbeiteten Produkten selbst, wartet viel Arbeit auf uns.