Grenzen der Gewissheit: Streit um Gentest bei Brustkrebs geht weiter
Chemo ja oder nein? Diese Entscheidung aufgrund eines Genexpressionstests zu treffen, ist zu unsicher für Brustkrebs-Patientinnen, meint das IQWiG - und befeuert damit erneut den Streit.
„Insgesamt kommt das IQWiG zu dem Schluss, dass derzeit kein Anhaltspunkt für einen Nutzen oder Schaden einer biomarkerbasierten Strategie zur Entscheidung für oder gegen eine adjuvante Chemotherapie beim primären Mammakarzinom vorliegt.“ Für Außenstehende klingt dieser Satz allenfalls fachchinesisch. Betroffene Frauen dürften die am heutigen Montag erschienene Analyse, die das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses erstellte, dagegen als brisant empfinden.
Mit den Tests, deren Brauchbarkeit hier in Frage gestellt wird, verbinden sie schließlich die Hoffnung, sich eine langwierige, anstrengende und möglicherweise mit lebenslangen Gesundheitsproblemen erkaufte Therapie zu ersparen. „Einer Frau diesen Test vorzuenthalten, trotz aller Empfehlungen von wissenschaftlicher Seite und der großen Brustkrebskongresse in den USA und auch hier in Deutschland, gleicht in meinen Augen einer Körperverletzung ohnegleichen“, so heißt es in einem der emotionalen (offenen) Briefe betroffener Frauen, die im Jahr 2013 beim damaligen Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr landeten.
Wer braucht eine Chemo? Wem schadet sie mehr als sie nützt?
Worum geht es? Rund 70.000 Frauen werden jedes Jahr in Deutschland mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert. Die Frage, ob außer einer Operation weitere Behandlungen nötig sind, steht dann schnell im Raum. Mit dem größten Bangen warten die Frauen meist darauf, ob ihnen zu einer unterstützenden Chemotherapie geraten wird. Sie soll verhindern, dass der Krebs wiederkommen und an anderer Stelle im Körper streuen kann. Frauen, die nur ein minimales Risiko für einen solchen Rückfall haben, würden mit der für Zellen giftigen Behandlung also unnötig belastet. Anderen rettet sie mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben. Doch wer gehört zu welcher Gruppe?
„Die Chemotherapie hat die Heilungsrate bei Brustkrebs verbessert – es wurde aber viel zu häufig chemotherapiert“, urteilt die Gynäkologin Isabell Witzel, Leiterin des Brustzentrums am Uniklinikum in Hamburg (UKE). In den Leitlinien sind Kriterien aufgelistet, nach denen sich die behandelnden Ärzte richten können und die sie in ihren Tumorkonferenzen diskutieren. Dazu gehören Fragen wie: Wie groß ist der Tumor? Sind Lymphknoten befallen? Wie schnell wachsen die Krebszellen? Wie hoch ist der Anteil der Zellen, die sich vermehren? Nicht zuletzt: Haben die Zellen Antennen für weibliche Geschlechtshormone, die das Wachstum beeinflussen, und finden sich große Mengen des Wachstumsfaktors HER2 im Krebsgewebe? Meist reichen die Antworten für eine klare Entscheidung.
Die Tests ermitteln, welche Gene im Tumor aktiv sind
Doch es gibt strittige Grenzfälle – vor allem wenn der Tumor Andockstellen für Östrogen und Progesteron hat, wenn er HER2-negativ ist und keiner oder höchstens drei Lymphknoten befallen sind. „Hier muss anhand des individuellen Risikos mit der Patientin gesprochen werden“, sagt Michael Untch, Chefarzt der Frauenklinik und Leiter des Interdisziplinären Brustzentrums am Helios-Klinikum in Berlin-Buch. Tests, die bei der Entscheidung helfen, sind grundsätzlich willkommen. Inzwischen untersuchen Pathologen bei der Operation entnommenes und tiefgefrorenes Tumorgewebe immer häufiger auf die zwei Eiweiße uPA und PAI 1, um anhand ihrer Menge die Prognose von Brustkrebs-Patientinnen ohne Befall der Lymphknoten einzuschätzen.
Und es sind mehrere Tests auf den Markt gekommen, mit denen man herausfinden kann, wie stark bis zu 70 verschiedene Gene im Tumor aktiv sind. Teilweise kann man dafür in Paraffin konserviertes Gewebe verwenden. Oncotype DX, EndoPredict, PAM 50 und MammaPrint – das sind derzeit die bekanntesten Namen. Für rund 20.000 Frauen in jedem Jahr kämen nach Einschätzung des IQWiG solche Tests infrage.
Die Experten des IQWiG warteten eine große Studie ab
Sie sollten „nur bei ausgewählten Patientinnen angewandt werden, wenn alle anderen Kriterien keine Therapieentscheidung zulassen“, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie. In der Brustkrebs-Leitlinie von 2012, die derzeit überarbeitet wird, hieß es noch: „Der Einsatz von Analysen zur Genexpression zur Beurteilung von Prognose oder Therapieansprechen ist nicht ausreichend validiert und kann daher nicht empfohlen werden.“
Das IQWiG hatte sich mit seiner endgültigen Bewertung zurückgehalten, um die Ergebnisse der sogenannten Mindact-Studie zum Test MammaPrint der niederländischen Firma Agendia abzuwarten. Sechs andere Studien hatten die Untersucher wegen fehlender Daten oder nicht ganz passender Fragestellung zuvor von der Analyse ausgeschlossen. Die PlanB-Studie der Westdeutschen Studiengruppe (WSG) zum Oncotype DX-Test brachte zwar ermutigende Ergebnisse, kann bisher aber nur mit einer Beobachtungszeit von drei Jahren aufwarten.
„Man kann nicht guten Gewissens von der Chemoherapie abraten“
Für die Mindact-Untersuchung, auf die sich das IQWiG konzentriert, wurde bei 6696 Frauen das Risiko, dass der Krebs sich nach der ersten Behandlung wieder melden könnte, nach den herkömmlichen Kriterien und mittels des Genexpressionstest MammaPrint ermittelt. Stimmten klinische und genetische Beurteilung hinsichtlich des Risikos überein, konnte eine klare Entscheidung für oder gegen die Chemotherapie getroffen werden. Wichen sie voneinander ab, wurde diese wichtige Weiche mit dem Einverständnis der Teilnehmerinnen zufällig gestellt. Im August erschienen im „New England Journal of Medicine“ erste Ergebnisse der Untersuchung.
Wichtig war für die Beurteilung des IQWiG nun, wie es jenen 46 Prozent der Frauen nach fünf Jahren ging, die ein günstiges Ergebnis im Biomarker-Test, aber hohe klinisch erkennbare Risiken hatten. 94,4 Prozent der Frauen dieser Gruppe, die keine Chemotherapie bekommen hatten, hatten in diesem Zeitraum keine Fern-Absiedlungen des Tumors bekommen, 95,9 Prozent der Frauen mit Chemotherapie blieb dieses Schicksal erspart, ein statistisch nicht signifikanter Unterschied von 1,5 Prozent. Wegen verschiedener Unsicherheiten könne er allerdings auch bis zu vier Prozent betragen, urteilt das IQWiG. „Gegenwärtig kann man einer Frau mit klinisch hohem und genetisch niedrigem Risiko nicht guten Gewissens von einer Chemotherapie abraten“, heißt es in der Pressemitteilung.
Eine „Rechnung jenseits des klinischen Alltags“
In die andere Waagschale fallen allerdings die Strapazen und auch die möglichen Spätfolgen der Chemotherapie. Die Nebenwirkungen am Herzen können sich noch Jahre später zeigen. „Die Rechnung vom IQWiG ist jenseits des klinischen Alltags aufgestellt worden und würde von kaum einer Patientin, die eine sechsmonatige Chemotherapie über sich ergehen lässt, nachvollzogen werden“, kritisiert deshalb Oleg Gluz, Oberarzt am Brustzentrum Niederrhein in Mönchengladbach und Wissenschaftlicher Koordinator der WSG. Verschärft werde die Lage noch dadurch, dass die Patientinnen im Versorgungsalltag meist älter seien als die in Studien eingeschlossenen. Bisher gebe es zu den Nebenwirkungen nur vage Aussagen, sagt umgekehrt Daniel Fleer aus dem IQWiG-Ressort Nichtmedikamentöse Verfahren, der den Bericht betreut hat. Die Autoren der Mindact-Studie, in der Informationen dazu gesammelt werden, hätten die Chance verpasst, ihre Erkenntnisse zu den unerwünschten Folgen der Chemotherapie publik zu machen.
Dass die Tests einigen Frauen eine zu weit reichende Therapie ersparen könnten, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Ergibt ein Test bei niedrigem klinischem Risiko ein hohes Risiko in der Gensignatur, so kann es nämlich genau umgekehrt aussehen. Dass eine Chemotherapie in diesen Fällen etwas nützt, sei allerdings noch nicht bewiesen, auch wenn sich das in den Werbebroschüren einiger Hersteller anders anhöre, kritisiert Untch. Richtig schwierig werde es, wenn es um die Entscheidung gehe, ob man einer Frau mit einem mittleren Risiko von einer Chemotherapie abraten dürfe. „Auch hier ist die Datenlage unklar“, sagt er.
„Die Bewertung versetzt uns zurück in die 1980er Jahre“
Man müsse Langzeitergebnisse haben, fordert das IQWiG. „Fünf Jahre Nachbeobachtungszeit sind viel zu kurz“, urteilt auch Brustkrebs-Experte Untch. Gerade bei den Patientinnen, deren Brustkrebs Antennen für weibliche Geschlechtshormone hat und Her2-negativ ist, komme es oft viel später zu Metastasen – „bis zu 25 Jahre nach der Diagnose“. In diesem Punkt sei die Sichtweise des IQWiG nachvollziehbar, meint auch Stefan Wiemann, Leiter der Abteilung Molekulare Genomanalyse am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. „Der in der Mindact-Studie überschaubare Zeitraum von fünf Jahren ist in der Tat zu gering, um finale Aussagen über die Vorhersagekraft dieses Tests treffen zu können.“
Hätte man unter diesen Umständen mit der Einführung der Tests nicht warten müssen? Eine heikle Frage, vor allem für die Ärzte, die täglich zusammen mit ihren Patientinnen Therapieentscheidungen treffen müssen. Die Tests seien ja gerade deshalb auf den Markt gekommen, weil bei der beschriebenen Gruppe eine so große Unsicherheit herrschte, ob sie zusätzlich zur antihormonellen Behandlung noch eine Chemotherapie brauchen, gibt Untch zu bedenken. Etwas mehr Sicherheit habe man nun doch, meint seine Kollegin Isabell Witzel. „Die Mindact-Studie bestätigt, dass man bei Frauen mit niedrigem Risiko laut Gentest, aber hohem klinisch ermitteltem Risiko auf eine Chemotherapie verzichten kann.“ Oleg Gluz fordert, dass zumindest die gut untersuchten Tests bei diesen Patientinnen von den Krankenkassen bezahlt werden. „Die IQWiG-Bewertung versetzt uns in Deutschland leider zurück in die 1980er, 1990er Jahre, als die Kenntnisse der Tumorbiologie noch unzureichend waren.“
Politik auf dem Rücken der Patientinnen
Die Lage ist vertrackt. Das dürfte teilweise auch daher rühren, dass für diagnostische Tests andere Zulassungskriterien gelten als für Arzneimittel. Der Brustkrebs-Experte Rolf Kreienberg, Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und externer Sachverständiger für die IQWiG-Untersuchung, fordert, dass bei solchen Tests die Beweislage vor der Markteinführung durch Studien geklärt sein sollte, „damit eine klare Ausgangslage besteht und nicht mit den Patienten beziehungsweise auf deren Rücken Politik gemacht wird“. Im vorliegenden Fall ist es dafür zu spät. Patientinnen können nur darauf hoffen, dass in fünf Jahren mehr Klarheit herrscht.
Adelheid Müller-Lissner