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Gut vernetzt. Jede einzelne Nervenzelle im Gehirn bildet weitverzweigte Fortsätze, um mit anderen zu kommunizieren. Die Bestrahlung stört diese Verbindungen.
© picture alliance / dpa

Spätfolgen nach Krebs: Strahlentherapie schädigt Nervenzellen

Die meisten krebskranken Kinder überleben die Krankheit. Aber nach einem Hirntumor kämpfen viele nicht nur mit körperlichen Schäden. Auch das Denken ist beeinträchtigt.

Michael musste kurz nach seinem fünften Geburtstag wegen eines Hirntumors ins Krankenhaus. Drei Mal wurde er operiert, das Gehirn und die Wirbelsäule bestrahlt, acht Blöcke Chemotherapie musste er in anderthalb Jahren über sich ergehen lassen. Der kleine Junge überlebte, wie etwa 80 Prozent der krebskranken Kinder. Heute ist er 21 Jahre alt.

Das Überleben hatte einen Preis. Während die meisten kleinen Leukämiepatienten später ein normales Leben führen, ziehen Hirntumoren und ihre Behandlung oft schwere und vielschichtige Spätfolgen nach sich: Schmerzen, körperliche Schäden, auch das Denken ist beeinträchtigt. Michael etwa kann sich schlecht konzentrieren, wird schnell müde. „Wenn er sich etwas merken soll, dann geht das nur mit anschaulichen Erzählungen. Oder wenn er selbst etwas sehen und ausprobieren kann“, erzählt seine Mutter.

Er ist kein Einzelfall. „Wir sehen das oft in Tests“, sagt Thorsten Langer, der das Late Effects Surveillance System (LESS) an der Uniklinik Erlangen leitet. „Die Kinder brauchen entweder länger als andere für eine Aufgabe oder sie geben auf, weil sie müde geworden sind. Sie sind nicht so aufmerksam.“ Neues lernen, Erinnerungen abspeichern, Informationen schnell verarbeiten – all das ist bei vielen von ihnen in Mitleidenschaft gezogen. An welchem Teil der Behandlung das liegt, war bisher unklar. Schließlich ist selbst ein langer Krankenhausaufenthalt nicht förderlich für das Gehirn.

Eine Studie von zwei Krebsmedizinern von der Universität von Kalifornien in Irvine, Vipan Kumar Parihar und Charles Limoli, weist nun auf einen möglichen Mechanismus hin. Wie sie im Fachblatt „PNAS“ schreiben, verändert sich bei Mäusen je nach Stärke der Bestrahlung die Struktur wichtiger Teile des Gehirns. Die Nervenzellen im Hippokampus – dem Tor zur Erinnerung – hatten einen Monat nach der Behandlung 20 bis 35 Prozent weniger Dendriten gebildet, jene Fortsätze, mit denen Nervenzellen Reize aufnehmen. Außerdem waren die Verzweigungen 40 bis 70 Prozent weniger dicht. Zusätzlich änderte sich die Chemie an den Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen. Verzweigungen, die sich gerade erst gebildet hatten, reagierten noch empfindlicher auf die Bestrahlung als andere.

„Diese Veränderungen tragen wahrscheinlich zu den kognitiven Komplikationen der Patienten bei oder sind ursächlich“, schreiben die Ärzte. Denn im gesunden Gehirn werden solche Verzweigungen je nach Bedarf immer wieder umgebaut und Verbindungen neu geknüpft. Ist diese Flexibilität eingeschränkt, wird es schwierig, auf Neues zu reagieren.

„Das heißt nicht, dass man die Bestrahlung verteufeln sollte“, sagt Langer. „Wir brauchen sie fast immer, um die Kinder zu retten.“ Ärzte seien aber in der Pflicht, möglichst schonend zu behandeln und die ehemaligen Patienten mit den Folgen der Therapie nicht allein zu lassen.

Die Hoffnung freilich ist, dass es in Zukunft gar nicht erst so weit kommen muss. „Sind die Mechanismen verstanden, findet man möglicherweise ein Medikament, das die Nervenzellen schützt“, sagt Langer. Eine Studie mit Mäusen ist da erst der Anfang.

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