Studium Generale an der TU Berlin: Starthilfe für Abiturienten
Uni, aber noch nicht so richtig: Mit einem Orientierungsjahr wollen Hochschulen Anfängern den Einstieg erleichtern. An der TU Berlin soll im Herbst das "Studium generale" starten, Vorreiter ist das Technikvorstudium "MINT grün".
Wer Konstantin und Jasper über den Campus der Technischen Universität Berlin (TU) folgt, bekommt die Gesprächsfetzen eines ganz alltäglichen Studentenlebens zu hören. Es geht um Programmierkurse und Semesterpartys, es geht auch um das „Kentucky“, ein Fleischbrötchen, das man im Café der Elektrotechnischen Institute der TU kaufen kann. Es genießt Kultstatus unter den Studierenden, weil zwar keiner weiß, was genau drin ist, aber es anständig satt macht. Bulette verberge sich in der Soße, meint Konstantin, „Rippchen“, widerspricht Jasper. Ganz normale Studentengespräche also – obwohl Konstantin und Jasper gar keine normalen Studierenden sind.
Seit einem Semester lernen die beiden 18-Jährigen an der TU, was immer sie wollen. Anstatt wie gewöhnliche Erstsemesterstudierende auf einen Studiengang beschränkt zu sein, sitzen sie mal in einer Mathevorlesung, mal in einem Chemiekurs. Konstantin und Jasper studieren im „MINT-grün“-Programm der TU (hier). Das Programm ermöglicht Abiturienten, sich zwei Semester lang die Fächer der Mathematik, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften anzuschauen – und sich erst später zu entscheiden, welcher Studiengang es nun sein darf.
Das Vorstudium soll zu geringeren Abbruchquoten führen
Künftig will die TU ihr Programm auf alle Fächer ausweiten und wie berichtet als „Studium generale“ anbieten. Spielen die Fakultäten mit, könnte es zum Wintersemester so weit sein, sagt TU-Präsident Christian Thomsen, der das Einsteigerprogramm mit konzipiert hat. Der Mehrwert des Studium generale liege für ihn auf der Hand: „Es verbreitert die Entscheidungsbasis, führt zu geringeren Abbruchquoten später im Studium und letztlich auch zu geringeren Studiendauern insgesamt in der Universität.“
Die TU reagiert so auch darauf, dass Studienanfänger wegen der verkürzten Gymnasialzeit jünger als früher an die Uni kommen. Die jüngeren Erstsemester seien oft voller Ideale, wüssten aber nicht, was sie an der Uni erwartet, heißt es. Die TU will da eine Orientierung liefern, etwaige Niveauunterschiede können ausgeglichen werden. An anderen Unis gibt es ähnliche Programme, die Namen variieren: Studium fundamentale oder Studienkolleg.
Zusätzliche Mitarbeiter und Tutoren übernehmen die Betreuung
An der TU durchläuft derzeit die zweite Kohorte von „MINT-Grünlingen“, wie sich die Studierenden nennen, das Orientierungsjahr. Waren es 2012 noch 77 Anfänger, starteten im Jahr 2013 schon 177. Sie besuchen die gleichen Veranstaltungen wie normale Bachelor-Anfänger. Zudem arbeiten sie in eigenen Laboren. Die TU leistet sich zusätzliche wissenschaftliche Mitarbeiter und Tutoren, die die Einsteiger betreuen. Mit 1,3 Millionen Euro wird das Programm im Rahmen des „Qualitätspakts Lehre“ des Bundes gefördert. Für das Studium generale braucht die TU laut Thomsen ungefähr noch einmal so viel Geld. Einen ersten Sponsor habe man „bereits an der Hand“, weitere würden gesucht.
In ihren Laboren entwerfen die Studierenden Computerprogramme oder fertigen Uhrwerke. Dinge zu gestalten, anstatt sie nur in Lehrbüchern zu sehen, schaffe erst Begeisterung für ein Fach, sagt Programmleiter Christian Schröder. Wie sollen Studierende wissen, ob sie für ein Technikstudium geeignet sind, wenn sie sich nicht ausprobieren dürfen? Schröder will seinen Schützlingen auch Hemmungen nehmen: „Viele halten ja Profs zunächst für Übermenschen.“
Studienpunkte aus dem ersten Jahr werden später angerechnet
Tatsächlich kam auch Jasper mit Bedenken an die TU. „Mir hat man an der Schule immer Angst vor der Uni gemacht“, sagt er. Jetzt merkt er: Es ist gar nicht so schlimm. Jasper hat sein erstes Semester den mathematischen Grundlagen gewidmet und auch Prüfungen abgelegt. Zusätzlich besuchte er Crashkurse in Chemie und Programmierung. Sollte er an der TU bleiben, kann er sich die bisher erworbenen Punkte anrechnen lassen. Bei der Bewerbung für das „richtige“ Studium muss er, wie alle anderen Abiturienten auch, allerdings den NC für sein Wunschfach überspringen.
Das Studium generale soll dagegen zunächst zulassungsfrei bleiben. Für die TU haben die Orientierungsstudierenden einen angenehmen Nebeneffekt: Sie zählen bei der Abrechnung der Landeszuschüsse als „Studierende im ersten Hochschulsemester“. Die TU kann so die in den Hochschulverträgen festgelegte Zahl an Studienanfängern leichter erreichen.
Ein verpflichtendes Orientierungsjahr will TU-Präsident Thomsen nicht
Ähnlich wie die TU bietet die Uni Tübingen mit ihrem Leibniz-Kolleg ihren Erstsemestern ein freiwilliges Orientierungsjahr an. Die Leuphana-Universität in Lüneburg verpflichtet gar alle Erstsemester zu einem Jahr gemeinsamen Lernens, bevor die Studierenden sich spezialisieren. Von einer Pflicht zum Orientierungsjahr hält TU-Präsident Thomsen allerdings wenig. „Das widerspricht meinem Grundgedanken, dass Universität ein freier Raum für Bildung ist.“ Er könne es sich vielmehr vorstellen, die Module des Bachelor höherwertig einzustufen, die bereits jetzt das Hineinschnuppern in fremde Studiengänge erlauben. So könnte es mehr Leistungspunkte für das fachfremde Studieren geben.
Die neuen Angebote zwingen Lehrende dazu, ihr Fach neu zu denken
Das würde einem Modell der Uni Erfurt ähneln. Dort sind die Bachelor-Studierenden zwar in ihrem Fach eingeschrieben, lernen aber in größerem Stil als anderswo fächerübergreifend. Alle müssen knapp ein Fünftel der Leistungspunkte mit interdisziplinären Kursen für ihr „Studium fundamentale“ erarbeiten. Ähnlich geht auch die private Universität Witten/Herdecke vor.
Für den Erfurter Politologen Alexander Thumfart, Beauftragter des Fundamentale-Programms, hat sich das Modell bewährt. Wenn es Beschwerden gebe, dann darüber, dass die Uni nicht genügend Fundamentale-Kurse anbiete. In Thumfarts Augen fordern übergreifende Kurse auch die Dozenten heraus, sich noch mehr mit der Qualität ihrer Lehre zu befassen. Da treffe der Jurist auf den Historiker, um an einem Menschenrechtsseminar zu basteln, oder der Literaturwissenschaftler analysiert mit dem Soziologen Thomas Manns „Zauberberg“. Klassische Lehrveranstaltungen würden so aufgebrochen, Lehrende wie Lernende gezwungen, ihr Fach für den anderen neu zu denken.
Physik oder Jura? Konstantin probiert beides aus
Die TU macht die Erfahrung, dass sich viele ihrer Orientierungs-Erstsemester auch in ganz fremde Veranstaltungen hineinsetzen, sagt Programmleiter Schröder. Konstantin zum Beispiel besuchte gleichzeitig Zivilrechtsvorlesungen an der Humboldt-Universität. „Ich hatte schon immer Spaß an Physik“, sagt Konstantin, „aber auch einen Hang zum Rechthaben.“ Neben einer Naturwissenschaft liebäugelt er daher auch mit Jura.
Als Student ginge er der TU verloren. Tatsächlich haben aus der ersten Kohorte drei Viertel der Studierenden ein MINT-Studium aufgenommen. Aber nur jeder Zweite blieb an der TU. Die Uni nehme das in Kauf, sagt Programmleiter Schröder: „Die Studierenden sollen herausfinden, was sie wollen.“ Die TU plant daher auch eine Kooperation mit der Industrie- und Handelskammer. Wer sich nach einem Jahr entscheidet, dass ein Studium nichts für ihn ist, soll es leichter auf einen Ausbildungsplatz schaffen.
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