Orthografie: Starke Kinder brauchen weniger Rechtschreib-Regeln
Lernschwache Erstklässler brauchen beim Schreibenlernen Struktur und Regeln, starke kommen mit Freiheit zurecht: Ein Faktencheck plädiert für Methodenvielfalt.
A wie Affe, B wie Baum – so dekorativ und anschaulich bebilderte Anlauttabellen im Kinderzimmer sind: Für den Anfangsunterricht in der Grundschule ist „Lesen durch Schreiben“, die damit verbundene Methode des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen aus dem Jahr 1982, in Verruf. Nach Hamburg, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein will wie berichtet auch Brandenburg das sogenannte „Schreiben nach Gehör“ ab dem Schuljahr 2019/20 verbieten. Begründet wird dies mit mangelnden Rechtschreibkenntnissen am Ende der Grundschulzeit. Bundesweit haben zuletzt 22,1 Prozent nicht den Mindeststandard in Orthografie erreicht.
Ein Faktencheck des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln kommt jetzt zu dem Schluss, „Lesen durch Schreiben“ reiche nicht aus, um Grundschüler zu kompetenten Schreibern zu machen. Ein zentrales Argument: Neben Reichens phonographischem Prinzip, nach dem Wörter so geschrieben werden, wie man sie hört oder sich vorspricht, stehe nun einmal etwa das morphematische Prinzip. Danach wird der Wortstamm immer gleich geschrieben – wie backen und Bäckerin (und nicht Beckerin). Solche Regeln werden den Kindern beim „Schreiben nach Gehör“ aber nicht vermittelt, sie müssen selbst herausfinden, wie ein Wort korrekt geschrieben wird. „Schwächere Kinder scheitern an diesen hohen Anforderungen“, heißt es im Faktencheck (zum gesamten Text geht es hier).
"Schreiben nach Gehör" kaum noch in Reinform
Bildungsforscher wie Jörg Ramseger von der Freien Universität Berlin und auch der Grundschulverband haben allerdings davor gewarnt, das freie Schreibenlernen, bei dem Rechtschreibfehler nicht korrigiert werden, allein für die Orthografieschwäche verantwortlich zu machen. Die Methode werde kaum noch in ihrer Reinform angewandt, Grundschulkinder würden heute sehr wohl auf die korrekten Schreibweisen hingewiesen. Dazu verpflichte schon der Berliner Rahmenlehrplan vor, hat Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) betont. Ein Verbot steht in Berlin deshalb derzeit nicht zur Debatte.
So sieht es auch Simone Jambor-Fahlen, die Autorin des Mercator-Faktenchecks „Lesen und Schreiben in der Grundschule“, für den sie frühere Studien zum Schreiben- und Lesenlernen zusammenfasst. Lehrkräfte würden diese und andere Methoden um andere Elemente ergänzen und – bedingt unter anderem durch die Bildungsstandards für das Fach Deutsch – zu einem recht frühen Zeitpunkt in der Grundschule Rechtschreibung unterrichten.
Hilfreich ist "lehrkraftzentrierter Fibelunterricht"
Aus den zitierten Studien lässt sich dem Faktencheck zufolge keine klare Überlegenheit einzelner Konzepte belegen. So hingen die Lernfortschritte von Kindern in Hamburg, die Ende der 1990er Jahre entweder mit einer Fibel oder mit „Lesen durch Schreiben“ unterrichtet wurden, stark vom Bildungshintergrund der Familie und von ihren kognitiven Grundfähigkeiten ab: Starke und mittelstarke Kinder konnten unabhängig von der Unterrichtsmethode am Ende des ersten Schuljahrs lesen, schwächere Kinder schafften das nur durch den „lehrkraftzentrierten Fibelunterricht“.
Eine weitere Studie von 2009/10 zeigte: Schwächere Lerner profitieren insbesondere von der silbenanalytischen Methode. Dabei lernen die Kinder beispielsweise, dass der Vokal in geschlossene Silben, die mit einem Konsonanten beginnen und enden – wie in Wol-ke – kurz gesprochen wird. Nach dieser Methode wird von Beginn an sehr strukturiert unterrichtet und entsprechend der Rechtschreibregeln geschrieben, in ihrer Reinform gilt sie aber für die Alphabetisierung als zu anspruchsvoll.
Interesse und Neugier wecken und erhalten
Am gängigsten ist laut Jambor-Fahlen die analytisch-synthetische Methode, die vielen Lehrwerken zugrunde liegt, ergänzt durch Anlauttabellen oder silbische Leseansätze. In ersten Wörtern wie Oma oder Ananas erfassen die Kinder einzelne Buchstaben und Laute visuell und akustisch, sie sprechen gemeinsam mit der Lehrkraft, setzen Buchstabenkarten ein und fahren die Buchstaben mit dem Finger nach. Als Nachteil gilt die anfangs geringe Wortauswahl, die zu einer „eingeschränkten Sprache“ führt. So kann die Motivation sinken, selber Texte zu schreiben. Dass Schüler ohne Fehlerkorrektur höher motiviert seien, Texte zu schreiben, wird häufig für „Lesen durch Schreiben“ ins Feld geführt. Dies sei aber „nicht durch Studien belegt“, betont Jambor-Fahlen.
Das Fazit der Sprachwissenschaftlerin lautet: „Die eine Methode, mit der alle Schülerinnen und Schüler ohne Probleme lesen und schreiben lernen, gibt es nicht.“ Wichtig sei, dass Lehrkräfte sich in der Anwendung ihrer Methoden sicher fühlen und sie individuell auf die Kinder abstimmen können. Vor allem aber sei es ihre Aufgabe, „das Interesse und die Neugier der Kindern am Lesen und Schreiben zu wecken und zu erhalten“.
Amory Burchard
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