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Ein Grundschüler bei ersten Schreibversuchen an einer Tafel.
© Kitty Kleist-Heinrich

Umstrittene Lehrmethode: Brandenburg schafft "Lesen durch Schreiben" ab

Eine kontrovers diskutierte Methode soll in Brandenburgs Grundschulen nicht mehr angewendet werden. Doch ein Bildungsforscher widerspricht der Kritik.

Eigentlich war es ein ganz persönlicher Brief. Doch dann wurde das Schriftstück 2013 sogar im Fernsehen gezeigt und zu einem Politikum. „Liba Fata – ales gute zum Fatatak. Ich hab dich lib“, hatte die Tochter des CDU-Landtagsabgeordneten Henryk Wichmann geschrieben. „Fata“ Wichmann freute sich zwar über die liebe Geste, war aber entsetzt über die katastrophale Rechtschreibung der Viertklässlerin. Ihre Grundschule in der Uckermark unterrichtete nach der umstrittenen Methode „Lesen durch Schreiben“, bei der – so sagen Kritiker – zunächst nicht auf Rechtschreibung geachtet wird. Kinder sollen Wörter schreiben, wie sie sie hören. Damit soll Kreativität gefördert und sollen Schüler überhaupt erst ermuntert werden, zu schreiben und zu lesen.

Herr Wichmann von der CDU fühlte sich auch ermuntert: Auf Antrag seiner Fraktion befasste sich der Landtag mit den Orthografieproblemen seiner Tochter und vieler anderer Kinder im Land. Die Methode des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen gehöre überprüft, besser noch: komplett aus den Klassenzimmern verbannt. Fünf Jahre später wird Wichmanns Wunsch erhört – ausgerechnet von einer SPD-Politikerin. Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst kündigte kürzlich an, dass das Lesen lernen nach der Reichen-Methode ab dem Schuljahr 2019/20 an märkischen Schulen verboten wird. Bislang konnten sich die Schulen aussuchen, ob sie nach dieser oder der Fibel-Methode unterrichten.

Bei der Fibel-Methode lernen Kinder nacheinander einzelne Buchstaben kennen und können damit dann kurze Wörter bilden (zum Beispiel „Leo“ oder „Omi“). Erst wenn genügend Buchstaben eingeführt sind, schreiben sie auch Sätze. Bei „Lesen durch Schreiben“ lernen die Kinder mit einer Anlauttabelle. Auf dieser sind neben Buchstaben Bilder mit Objekten zu sehen – bei B zum Beispiel ein Baum, bei F eine Feder. Über die Laute, die sie hören, können sich die Kinder die Buchstaben erschließen und so Wörter und Sätze bilden. Sie schreiben dann aber vielleicht „Fata“ statt „Vater“.

Es gibt Kritik an der viel beachteten Studie

Diesen Monat erst sorgten Studienergebnisse der Universität Bonn für Aufsehen, für die Psychologen drei Lernmethoden und die damit erzielten Erfolge von 3000 Grundschulkindern in Nordrhein-Westfalen untersuchten. Das Ergebnis: Grundschüler lernen Rechtschreibung am besten nach der klassischen Fibel-Methode. Die Studie selbst ist allerdings noch nicht veröffentlicht worden.

Der Grundschulverband hält dieses Vorgehen für „wissenschaftlich unseriös“: „Man kann nicht als Universität mit dem Siegel ‚groß angelegte Studie‘ breitenwirksam Urteile in die Welt setzen, ohne zugleich die Daten und das forschungsmethodische Vorgehen für eine kritische Nachprüfung verfügbar zu machen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Verbandes, Ulrich Hecker. Nichtsdestotrotz forderte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bereits, dass die Ergebnisse der Studie nun schnell in der Praxis Anwendung finden müssten. Bundesweit war die Resonanz groß. „Ich bin happy, dass der Fehler nun endlich korrigiert wird“, sagt CDU-Politiker Wichmann zu der aktuellen Entwicklung in Brandenburg. Vor einigen Jahren sei er mit seinem Vorstoß bei der damaligen SPD-Ministerin Martina Münch noch „mit einem müden Lächeln abgeblitzt“.

Sie sehe das Verbot lediglich als „Klarstellung“ und „Signal“, sagt allerdings Ministerin Ernst. In der Schulpraxis finde die umstrittene Methode ohnehin kaum noch Anwendung. Nach einer älteren Erhebung unterrichten fünf Prozent der Grundschulen nach der umstrittenen Methode. Dass diese speziell bei leistungsschwächeren Schülern keine guten Resultate hervorbringe, legten inzwischen mehrere Studien nahe, so Ernst. Die Autoren der nun diskutierten Studie schreiben, dass Lehrkräfte bei „Lesen durch Schreiben“ die Kinder explizit nicht korrigieren sollen.

Das sieht Bildungsforscher Jörg Ramseger von der Berliner Freien Universität allerdings anders. Er sagt: „Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis, und wenn es gemacht wird, ist es ein pädagogischer Kunstfehler.“ Auch wenn mit der Methode „Lesen durch Schreiben“ und mit Anlauttabellen gearbeitet wird, sollen Lehrer falsche Schreibweisen nicht einfach stehen lassen. Sie können die richtige Schreibweise neben oder unter das Wort des Kindes schreiben und markieren, welche Anteile des Wortes das Kind schon richtig geschrieben hat.

Und wie ist die Situation in Berlin?

Bitte aufpassen! Unterricht in einer Berliner Grundschule.
Bitte aufpassen! Unterricht in einer Berliner Grundschule.
© Kitty Kleist-Heinrich

An den Schulen in Berlin soll „Lesen durch Schreiben“ in seiner reinen Form gar nicht angewendet werden. „Das entspricht nicht den Vorgaben im Rahmenlehrplan“, sagt Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Sie stellt klar: „Es ist wichtig, dass Kinder von Anfang an auf Orthografie hingewiesen werden.“

Bildungsforscher Jörg Ramseger sagt, dass an Berliner Schulen ein breites Spektrum an Methoden zum Einsatz komme. Im Osten Berlins sei der Einsatz von Fibeln verbreitet, im Westen gebe es eine größere Methodenvielfalt. Er empfiehlt, mehrere Methoden anzuwenden: „Kompetente Lehrkräfte mischen die Methoden.“ Unterrichten sei immer auch interpretieren – es komme darauf an zu erkennen, was welchem Kind hilft.

In der Praxis gibt es also sowohl in Berlin als auch in Brandenburg kaum Schüler, deren Rechtschreibung nicht korrigiert wird. Dennoch sind die Ergebnisse der Brandenburger Schüler in diesem Bereich unbefriedigend. Zwar liegen die Leistungen der märkischen Schüler im deutschen Mittelfeld – aber damit, so Ernst, könne sich Brandenburg nicht zufriedengeben. 12,5 Prozent der Grundschüler im Land (und in Deutschland) erreichen in der Lesekompetenz nicht den erforderlichen Mindeststandard. In Orthografie sind es in Brandenburg sogar 23,2, deutschlandweit 22,1 Prozent. Das hatte der 2017 veröffentlichte IQB-Bildungstrend 2016 ergeben.

Vier konkrete Punkte sollen umgesetzt werden

Daher sollen ab dem Schuljahr 2019/20 neben der Anwendung der Fibel-Methode weitere vier Punkte umgesetzt werden: Alle Schulen sollen in ihrem Curriculum feste Lernzeiten einplanen, zu denen Sprachfertigkeiten wie Lesen und Rechtschreiben geübt werden. Außerdem soll in allen Fächern das richtige Schreiben überprüft, Fehler bei Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung korrigiert werden. Das gelte für Klassenarbeiten und schriftliche Lernerfolgskontrollen.

Auf das Fach Deutsch wird noch einmal besonderer Wert gelegt, so Ernst. In den Jahrgangsstufen 1 bis 4 soll ein Grundwortschatz von 700 Worten erarbeitet werden. Alle Schüler sollen am Ende der jeweiligen Doppeljahrgangsstufe die 300 dafür ausgewiesenen Wörter des Grundwortschatzes sowie die 100 häufigsten Wörter beherrschen.

Bei schriftlichen Arbeiten im Fach Deutsch wird zudem stärker als sonst auf Rechtschreibung geachtet: Derzeit werden in der dritten Klasse eine und in den Jahrgangsstufen 4 bis 6 jeweils zwei Arbeiten geschrieben, in denen schwerpunktmäßig die Orthografieleistung bewertet wird. Künftig sind zusätzlich von Klasse 2 bis 6 alle schriftlichen Arbeiten und Lernerfolgskontrollen in Deutsch so zu gestalten, dass jeweils ein Teilbereich den Schwerpunkt Rechtschreibung hat. In den Jahrgangsstufen 7 bis 9 wird mindestens einmal im Schuljahr eine Klassenarbeit und in der Jahrgangsstufe 10 eine schriftliche Lernerfolgskontrolle mit einem Schwerpunkt „Rechtschreibkompetenz“ geschrieben.

„Richtig Lesen und Schreiben sind Kernkompetenzen“, erklärte Ernst. Wenn man die schulische Qualität in Brandenburg verbessern wolle, müsse man dort ansetzen. Oder, wie die Tochter von Henryk Wichmann geschrieben hätte: allet wirt jut. filleicht.

Mal um Mal zeigen Vergleichsarbeiten – Grundschüler schreiben nicht korrekt. Kritiker schimpfen auf die Lernmethode. Doch Ines Gravenkamp, Lehrerin in Wedding seit 33 Jahren, sagt: Daran liegt es nicht. Lesen Sie hier eine Reportage.

Sylvia Vogt

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