Minister warnt vor Verwandtschaftsbesuchen im Ausland: Spahn gibt Inzidenz von unter 20 als Ziel für den Sommer aus
Für weitreichende Lockerungen müssten die Infektionszahlen weiter sinken, sagt Spahn. Für die Urlaubsaison kündigt er Testvereinbarungen etwa mit der Türkei an.
Die Sieben-Tage-Inzidenz gilt im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland als der entscheidende Wert für die Lockerung von Auflagen. Durch die Impfkampagne und die Maßnahmen der Bundesnotbremse sinkt die Zahl der Neuninfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche seit einiger Zeit. Jetzt hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Zielmarke für weitreichende Lockerungen und Öffnungen genannt. „Für einen unbeschwerten Sommer müssen wir die Inzidenz weiter senken. Im vergangenen Sommer lag sie unter 20. Das sollten wir wieder anstreben“, sagte er der „Bild am Sonntag“.
Im bundesweiten Schnitt meldete das Robert Koch-Institut (RKI) am Sonntag einen Wert von 65,5. Am 23. Mai 2020 lag die Sieben-Tage-Inzidenz Daten des Tagesspiegel zufolge bei 5. Der Wert blieb bis Mitte August im einstelligen Bereich und bis Anfang Oktober unter 20. Dann begann die zweite Welle, die Infektionszahlen stiegen stark an.
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Ausdrücklich warnte Spahn, dass Familienbesuche von Migranten in ihren Heimatländern die Zahl der Infektionen wieder hochtreiben könnten. Im vergangenen Sommer hätten „Auslandsreisen, häufig Verwandtschaftsbesuche in der Türkei und auf dem Balkan, phasenweise rund 50 Prozent der Neuinfektionen bei uns ausgelöst“. Das müsse in diesem Jahr verhindert werden. Spahn kündigte an: „Wir wollen frühzeitig Vereinbarungen etwa mit der Türkei über Tests bei der Ein- und Ausreise abschließen. Und eine Testpflicht müsste wie im letzten Jahr von den Bundesländern an der Grenze kontrolliert werden.“
Zuversichtlich zeigte sich Spahn, dass im Sommer Open-Air-Konzerte erlaubt werden: „Keine Rock-Festivals, wo sich Zehntausende in den Armen liegen. Konzerte im nicht voll besetzten Olympiastadion oder im Park mit Tests und Abstand sind aus heutiger Perspektive drin.“ Auch den Start der neuen Saison der Fußball-Bundesliga mit Publikum hält der Gesundheitsminister für realistisch. „Die Liga hat ein gutes Schutzkonzept entwickelt. Wenn die Inzidenz weiter sinkt, bin ich sicher, dass Fans im August wieder ins Stadion dürfen.“
Das Infektionsgeschehen ist in Deutschland nach wie vor sehr unterschiedlich. Daten des Tagesspiegel zufolge verzeichnen Thüringen gefolgt von Sachsen und Baden-Württemberg bundesweit die höchsten Werte bei der Sieben-Tage-Inzidenz. Den mit Abstand höchsten Wert meldet derzeit der Landkreis Kempten (Bayern) mit 459. Es folgen Hildburghausen (Thüringen) mit 271 und Memmingen (Bayern) mit 251. Es gibt derzeit keinen Landkreis, der in den vergangenen sieben Tage keine neuen Infektionsfälle gemeldet hat. 120 Landkreise haben eine Inzidenz von unter 50.
Die Bundesländer Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein freuen sich über die niedrigsten Werte. In Schleswig-Holstein liegen auch die drei Landkreise mit den wenigsten Inzidenzen: Flensburg (6), Schleswig-Flensburg (8) und Dithmarschen (9).
Wegen der sinkenden Infektionszahlen ist vielerorts die verhängte Bundes-Notbremse außer Kraft getreten. Je nach Landesregelung und örtlicher Inzidenz öffnen Gastronomiebetriebe und Hotels wieder mehr oder weniger eingeschränkt. Die bundesweit verbindlichen Regeln für schärfere Corona-Maßnahmen mit unter anderem Ausgangsbeschränkungen waren am 23. April in Kraft getreten. Sie gelten für Regionen, in denen die Sieben-Tage-Inzidenz über mehrere Tage den Wert von 100 überschreitet.
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Spahn sagte: „Bis auf wenige Ausnahmen werden wir in zwei, drei Wochen im ganzen Land keine Ausgangssperren mehr brauchen. Das Wetter wird besser, die Zahl der Impfungen steigt, die Infektionen sinken, die Beschränkungen werden nach und nach fallen. Nach den langen, dunklen Wintermonaten ist das unglaublich wichtig.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte am Samstag angesichts der Lockerungen der Schutzmaßnahmen zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den wiedergewonnenen Freiheiten aufgerufen. „Jetzt, Ende Mai, nach 15 Monaten und einer schweren dritten Welle, haben wir endlich viele Gründe, optimistisch zu sein; vor allem natürlich, weil die Impfkampagne jetzt mit so viel Schwung läuft. Aber besiegt haben wir das Virus noch nicht“, sagte sie in wöchentlichen Videobotschaft.
„Täglich gibt es Tausende von Neuansteckungen, und täglich sterben auch Menschen an Corona.“ Neue Virusvarianten müssten sehr wachsam beobachtet werden, sagte Merkel. „Es bleibt daher unsere gemeinsame Aufgabe, mit Freiheiten auch verantwortungsvoll umzugehen und aufeinander Rücksicht zu nehmen. Schutz und Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen sind mit sehr gutem Grund in unserem Grundgesetz unantastbar festgeschrieben.“
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mahnte am Sonntag zur Vorsicht und Geduld. Mit Blick auf das Saarland schrieb er bei Twitter, die dortigen Lockerungen seien „waghalsig“ und nicht durch die Impfkampagne abgesichert. „Wir brauchen noch 2-3 Wochen konsequente Disziplin“, schrieb der Mediziner.
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Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) waren Stand Samstagvormittag 13,6 Prozent der Bevölkerung (11,3 Millionen) bereits vollständig geimpft. 39,9 Prozent (33,1 Millionen) haben bisher zumindest eine der Spritzen bekommen. Spahn äußerte in diesem Zusammenhang Verständnis für den Ärger der Hausärzte, von denen sich viele mit einem Ansturm von Impfwilligen konfrontiert sehen. „Ich verstehe die Situation der Ärzte. Besonders die Praxisteams kriegen viel Wut ab. Daher rufe ich allen Ungeduldigen zu: Wenn Sie unbedingt auf jemanden sauer sein wollen, seien Sie sauer auf mich – aber lassen Sie es nicht an Arzthelferinnen und -helfern aus, die jeden Tag vor Ort alles geben.“
Weniger Verständnis habe er für die Ärzte-Funktionäre, sagte der Minister. „Dieselben, die vor vier Wochen gesagt haben, die Priorisierung sei Impf-Bürokratie und müsse weg, kritisieren jetzt die Aufhebung. Das passt nicht zusammen.“ Zu dem Problem, dass die Impfungen in Deutschland bisher nicht digital erfasst werden und sich Millionen Geimpfte selbst um den geplanten EU-weiten digitalen Impfpass werden kümmern müssen, sagte Spahn: „Der Vorschlag, ein zentrales Impfregister einzuführen, hat vergangenes Jahr einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Es ist ja richtig, dass wir großen Wert auf Datenschutz und Datensicherheit legen. Aber wir müssen in Deutschland unsere Angst vor nationalen Bürgerregistern überwinden, wenn wir bei der Digitalisierung vorankommen wollen.“
Am Sonntagmorgen meldete das RKI binnen eines Tages 6714 Neuinfektionen gemeldet. Vor einer Woche hatte der Wert bei 8500 Ansteckungen gelegen. Am Sonntag sind die vom RKI gemeldeten Fallzahlen meist niedriger, unter anderem weil am Wochenende weniger getestet wird.
Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie insgesamt 3.648 .958 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte aber deutlich höher liegen, da viele Infektionen nicht erkannt werden. Die Zahl der Genesenen gab das RKI mit etwa 3.397.100 an. Daten des Tagesspiegel zufolge gab es Stand Sonntagmorgen in Deutschland rund 168.130 aktive Erkrankungsfälle. Vor einer Woche waren es 230.090 gewesen. Die Zahl der Menschen, die an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Infektion mit Sars-CoV-2 gestorben sind, wird nun mit 87.380 angegeben.