zum Hauptinhalt
Auf dem Gelände des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers in Sobibor sichern polnische Archäologen materielle Zeugnisse wie die Fundamente der Gaskammern und persönliche Gegenstände der Insassen.
© Wojciech Pacewicz/picture alliance/dpa

Widerstand im Vernichtungslager Sobibor: Sie wehrten sich im Namen ihrer ermordeten Familien

Der Aufstand im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor jährt sich am 14. Oktober zum 75. Mal. Jetzt ist der Bericht eines Augenzeugen erstmals auf Deutsch erschienen.

Jedes vierte Opfer des Holocaust kam im Rahmen der bis zum Oktober 1943 dauernden „Aktion Reinhardt“ ums Leben. Heinrich Himmler hatte dies im Juli 1942 angeordnet, weil die mit dem Überfall auf die Sowjetunion stattfindenden Massenerschießungen durch Einsatzgruppen nicht „effektiv“ genug seien. „Aktion Reinhardt“ steht für die systematische Ermordung von Menschen in den abgeschieden, an Eisenbahnlinien liegenden drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka an der östlichen Grenze des von Deutschland besetzten Polens.

Die Insassen von Vernichtungslagern im Dritten Reich werden zumeist als gedemütigte, verängstigte und wehrlose Individuen dargestellt, daher wissen die wenigsten, dass es in den KZs auch vereinzelt Widerstand gab. Doch in diesem Jahr gilt es an den größten Aufstand zu erinnern, der je in einem deutschen Konzentrations- beziehungsweise Vernichtungslager stattgefunden hat. Am 14. Oktober 1943 kam es im Lager Sobibor bei Lublin zu einem Aufstand, bei dem mindestens zwölf SS-Männer und zehn ukrainische Helfer getötet wurden. Bereits im August hatte es einen ähnlichen Aufstand in Treblinka gegeben. Damit hatten die SS-Männer nicht gerechnet, denn sie waren überzeugt, dass die von ihnen so bezeichneten „Untermenschen“ dazu nicht in der Lage wären. Im Berliner Metropol Verlag ist jetzt ein bislang unbekannter Augenzeugenbericht erschienen, zum bevorstehenden 75. Jahrestag ein wertvolles Zeugnis über diesen mutigen und lange vergessenen Akt des Widerstandes.

Der Aufstand begann mit einem gezielten Axthieb

Für den Aufstand in Sobibor hatten sich ungefähr 50 Verschwörer zusammengetan, die noch als Arbeiter gebraucht wurden und daher nicht sofort nach ihrer Verschleppung in das Lager ermordet worden waren. Sie wussten jedoch, was auch ihnen bevorstand, denn sie sahen die ankommenden Züge und erlebten, was tagtäglich in den Gaskammern geschah. Der Ukrainer Alexandr Petscherski und der Pole Leon Feldhendler waren die treibenden Kräfte des Aufstands. Sie hatten alles minutiös geplant – und mit einem gezielten Axthieb sollte der Aufstand beginnen.

Der zu diesem Zeitpunkt amtierende Lagerkommandant Niemann wurde zur Anprobe einer neuen Uniform gebeten. Sie hätten etwas besonders Schönes für ihn, behaupteten seine Arbeitssklaven. Niemann kam standesgemäß auf seinem Schimmel angeritten, legte seine Uniform mitsamt der Pistole ab, um sich seine Uniform anpassen zu lassen. Nichtsahnend ließ er sich vom Schneider in die richtige Richtung drehen, dann traf ihn von hinten die Axt und spaltete seinen Schädel. Ein Schlag hätte genügt, aber einer der Anwesenden stach noch rasend vor Wut mit einer Schere auf ihn ein, während er die Namen seiner in Sobibor ermordeten Frau und Kinder rief.

In der Schusterwerkstatt wurde inzwischen der Kommandeur der ukrainischen Wachleute auf dieselbe Art liquidiert. Ihm waren schöne neue Stiefel versprochen worden. Innerhalb kurzer Zeit konnten so die wichtigsten SS-Männer im Lager liquidiert, alle Telefonleitungen gekappt und Gewehre aus der Waffenkammer gestohlen werden, ohne dass es die ukrainischen Wachposten an den Lagerzäunen bemerkt hätten. Das Vernichtungslager war führungslos.

Die SS machte das Vernichtungslager dem Erdboden gleich

Danach erst wurden die anderen Arbeitshäftlinge eingeweiht. Petscherski hielt eine kurze Ansprache. Für die Wachleute in ihren fernen Wachtürmen sah es aus wie der übliche Nachmittagsappell, zu dem ein eingeweihter „Kapo“ gerufen hatte. Erst als ein vom Einkauf zurückkehrender SS-Mann den ersten ermordeten Kollegen fand, brach das Chaos aus.

Unter dem Kugelhagel der alarmierten ukrainischen Wachleute durchbrachen die Häftlingen das Lagertor, um in den nahen Wald zu fliehen. Durch die Schüsse und im Minenfeld starben viele schon beim Fluchtversuch. Danach begann eine mörderische Hetzjagd, der auch viele zunächst erfolgreich Geflüchtete zum Opfer fielen. Von den 550 Insassen zum Zeitpunkt des Aufstands sollten nur 53 die nächsten Monate überleben.

Zwei davon, Aleksandr Petscherski und der damals 16-jährige Thomas Blatt, haben beeindruckende Augenzeugenberichte hinterlassen. Petscherskis eher nüchterner Bericht wurde gerade eben im Metropol Verlag erstmals auf Deutsch veröffentlicht, Thomas Blatts Buch „Nur die Schatten bleiben“, bereits vor einigen Jahren (Aufbau Taschenbuch). Blatts Augenzeugenbericht beeindruckt auch durch ein dokumentiertes Gespräch von 1983 mit einem seiner deutschen KZ-Peiniger.

Die im Lager verbliebenen Juden wurden schon am Tag nach dem Aufstand erschossen. Das Vernichtungslager wurde von der SS dem Erdboden gleichgemacht, wohl auch um die Verbrechen vor der herannahenden Roten Armee zu verbergen.

Überlebende waren auch nach dem Krieg noch Verfolgungen ausgesetzt

Weder Petscherski noch Blatt hatten es nach dem Krieg leicht. Aleksandr Petscherski galt als ehemaliger Kriegsgefangener in der Sowjetunion als Verräter. So hatte es Stalin einst dekretiert. Erst 2016 verlieh ihm Präsident Wladimir Putin posthum die Tapferkeitsmedaille.

Auch Thomas Blatt war in seiner polnischen Heimat Izbica nicht mehr gern gesehen. Ein Bauer versuchte ihn zu töten, nachdem er ihm zuvor Unterschlupf gewährt hatte. Er überlebte mit einem Steckschuss im Kiefer, seine Begleiter nicht. Neue Besitzer hatten sich jüdischen Eigentums bemächtigt und sahen ihn nun als Konkurrenten.

Auch andere zurückgekehrte Juden wurden getötet, denn Antisemitismus war weit verbreitet. Ein Nachbar, der Blatt vor einheimischen Antisemiten versteckte, riet ihm: „Lauf von hier weg, Toivi, und verlier keine Zeit, sonst ist es zu spät. (…) Sie suchen dich, sie suchen dich überall. Lauf, lauf nach Lublin, bevor es zu spät ist.“

Der zweiten Anführer des Aufstands von Sobibor, Leon Feldhendler, ging nach der Befreiung nach Lublin, wurde dort im April 1945 von einem Antisemiten angeschossen und erlag nach drei Tagen seinen Verletzungen.

Aleksandr Petscherski: Bericht über den Aufstand in Sobibor (herausgegeben und übersetzt von Ingrid Damerow, mit einem Beitrag von Stephan Lehnstaedt), Metropol Verlag Berlin, 2018. 137 Seiten, 19 Euro.

Ernst Reuß

Zur Startseite