Zwischenstation auf dem Weg ins KZ: Vergeblich aufs Überleben hoffen
In Transitghettos wurden Juden gesammelt, bevor sie in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Die Existenz von Konzentrationslagern, von Vernichtungslagern und von Ghettos ist bekannt. Von Transitghettos haben die meisten jedoch noch nichts gehört. Nun erschien das Buch „Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust“ von Steffen Hänschen, der seit 20 Jahren Bildungsreisen an die Tatorte des Holocaust in die Region Lublin begleitet. Dort hat es einige Transitghettos gegeben, wohin Juden verschleppt worden waren, bevor sie in den drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet wurden.
Der Verwaltungsbezirk Lublin hatte mit 13 Prozent den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in Polen. Ungefähr 320.000 Menschen jüdischen Glaubens lebten dort. Izbica lag im damaligen Zentrum Polens, 70 km entfernt von der Gebietshauptstadt Lublin. Heute liegt das nach dem Krieg völlig entvölkerte Izbica an der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine. Von 6000 Einwohnern waren mehr als 5000 Menschen jüdischen Glaubens. Grund dafür war, dass es Juden verboten war, in die Nachbarorte zu ziehen.
Ausgegrenzt und diskriminiert wurden Juden schon unter polnischer Herrschaft. Mit Beginn der deutschen Besatzung sollte sich das noch mal dramatisch verschlechtern. Als SS-Männer, ein volksdeutscher Bürgermeister und deutsche Verwaltungsbeamte die Macht übernahmen, wurden Juden zu Zwangsarbeit verpflichtet, ausgeplündert und ermordet. Affären mit jungen jüdischen Mädchen wurden dadurch beendet, dass diese umgebracht und damit als lästige Zeuginnen aus der Welt geschafft wurden, wenn eine Anzeige wegen Rassenschande drohte.
Zwischenstation nach Belzec und Sobibor
Mit der Aktion Reinhardt wurden Juden aus Westpolen in den drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet. Izbica war ein Verkehrsknotenpunkt auf den Weg in die Ukraine und lag genau zwischen den keine 100 Kilometer entfernten Lagern Belzec und Sobibor. Das Dorf war die Zwischenstation, in der die nicht sofort in die Vernichtungslager Deportierten vergeblich auf ihr Überleben hofften. Später wurden auch Juden aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, der Slowakei, Luxemburg und aus dem Deutschen Reich dorthin verschleppt. Der Autor dokumentiert einige dieser Deportationen, wie die aus Wien, Koblenz, Frankfurt am Main, Stuttgart oder Nürnberg. Er berichtet auch über persönliche Schicksale von Deportierten, die ihr Ticket nach Izbica auch noch selbst zu zahlen hatten.
Juden durften die Ghettos unter Androhung der Todesstrafe nicht verlassen. Obwohl nicht umzäunt, wäre es sehr gefährlich gewesen, dies zu tun, denn polnische Denunzianten gab es zuhauf. Weitgehend blieben diese Transitghettos „ohne Mauern“ von der Forschung unbeachtet, doch der Autor Stefan Hänschen hat sich jetzt auf mehr als 600 Seiten mit dem größten der Transitghettos eingehend beschäftigt. Er schildert ausführlich die Deportationen nach Izbica und das willkürliche und grausame Geschehen vor Ort. Er berichtet auch über die ab 24. März 1942 beginnenden „Aktionen“, mit denen schließlich auch Izbica bis November 1942 entvölkert wurde. Offiziell galt Izbica von da an als „judenrein“, obwohl in der umliegenden Gegend noch Geflohene oder Versteckte lebten. 500 Zwangsarbeiter durften bis April 1943 bleiben, dann wurden auch sie ermordet. Hilfe erhielten die deutschen Mörder von ukrainischen Freiwilligen, kollaborierenden Polen und angesiedelten Volksdeutschen.
Heute lebt kein Jude mehr in Izbica
Am 20. Juli 1944 eroberte schließlich die Rote Armee Izbica. Über 25.000 Juden hielten sich während der Zeit des Transitghettos für kurze Zeit oder länger in Izbica auf. Nur ungefähr 60 Juden sollten das sinnlose Morden in ihren Verstecken überleben. Die wenigen aus Izbica stammenden Juden konnten nicht in ihre Häuser zurück, denn es drohte erneut Unheil von den inzwischen polnischen Bewohnern. Polnische Antisemiten töteten nicht wenige Juden. Das bekannteste Massaker fand am 4. Juli 1946 in Kielce statt und hatte eine jüdische Emigrationswelle aus Polen zur Folge. Heute lebt kein Jude mehr in Izbica.
Zum Schluss beschreibt der Autor die oftmals erfolglosen Nachkriegsverfahren gegen deutsche Täter und polnische Kollaborateure. Eine ausführliche Dokumentensammlung rundet das Buch ab, denn der Autor hat alle Karten, Briefe und Berichte, die die Zeit im Transitghetto betreffen, gesammelt. Eine Auflistung aller Überlebenden und deren Lebenslauf beschließt das sehr akribische, aber dennoch flüssig zu lesende Werk. - Steffen Hänschen: Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust. Metropol Verlag, Berlin 2018, 608 Seiten, 29.90 Euro.
Ernst Reuß