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2,68 Millionen Studierende sind zum Wintersemester 2014/15 eingeschrieben.
© dpa

Inklusion und Leistungsprinzip: Sehr gute Schüler sind die Betrogenen, schwache auch

Viele junge Menschen fühlen sich nicht mehr für ihren Lern- und Lebenserfolg verantwortlich. Sie haben es nicht anders gelernt, denn Schulen und Hochschulen haben das Leistungsprinzip suspendiert. Ein Essay.

Ein Essay von Ursula Weidenfeld

Ein Student tut sich schwer in seinem Master-Studiengang. Bestenfalls eine Vier ist drin, manche Arbeiten gehen ganz schief. Nach einiger Zeit sucht er das Gespräch mit der Dozentin. Er findet seine Noten ungerecht. Sie erklärt ihm, warum die jetzigen Leistungen nicht ausreichen und möchte wissen, warum er sich ausgerechnet für das Aufbaustudium entschieden hat. Der Student denkt eine Weile nach. Er sagt, bisher, in der Schule, beim Abitur, habe er immer ganz gute Noten bekommen. Dann fragt er: „Was wollen Sie jetzt tun, damit ich besser abschneide?“

Eine Vier gilt als unzumutbare Härte

Frage nicht, was Du selbst tun kannst - frage zuerst Deine Universität, was sie für Dich tun will. Viele junge Menschen fühlen sich nicht mehr selbst für ihren Lern- und Lebenserfolg verantwortlich. Für eine erfolgreiche Schullaufbahn, ein gutes Abitur, ein vielversprechendes Bachelor-Studium und den anschließenden Aufbaustudiengang im Master sollen ihre Lehrer und Professoren gerade stehen. Fällt einer durch, wird das vermeintliche Versagen des jeweiligen Bildungsträgers angeprangert. Die Schulen und Hochschulen reagieren unmittelbar. Sie richten Tutorien ein, erfinden Mentoringprogramme, organisieren Lernclubs und Nachhilfegruppen. Sie senken die Ansprüche. Sie verteilen bessere Bewertungen. In einigen Studienfächern gibt es nur noch die Noten Eins bis Drei, eine Vier gilt als unzumutbare Härte.

© Karikatur: Klaus Stuttmann

Den Jugendlichen und jungen Erwachsenen darf man am wenigsten vorwerfen, dass sie sich nicht selbst für den Erfolg ihres Studiums verantwortlich fühlen. Sie haben es nicht anders gelernt. Schulen und Hochschulen selbst züchten die Anspruchshaltung, unter der sie anschließend wortgewaltig leiden. Sie haben das Leistungsprinzip suspendiert.

Im Fach Biologie bekamen beispielsweise die Hamburger Abiturienten 2010 in der Abituraufgabe vorgekaut, wie sie sich einen weißen Hai, ein paar Schwertwale und deren Speisezettel vorzustellen haben. Danach durften sie in intellektueller Eigenleistung erarbeiten, dass möglicherweise ein Zusammenhang zwischen Hai und Wal und dem Schrumpfen einer benachbarten Seeelefantenpopulation besteht. Die Abiturienten sollten aufschreiben, dass die Meeresräuber die Seeelefantenbabys gefrühstückt hatten. Die Antworten hätten sich zweifelsfrei aus der Fragestellung ergeben, spottet der Frankfurter Bildungsforscher Hans Peter Klein. „In den Schulen hat längst ein Notendumping eingesetzt. Die Lehrer können sich dem Druck nach der Vergabe ausschließlich guter Noten kaum entziehen, da schlechte Noten ihnen und nicht den Schülern zur Last gelegt werden.“

Es steckt keine Ideologie hinter dieser Entwicklung - sie passiert einfach

Über alle Entwicklungsstufen des jungen Geistes hinweg schreiben sie sich in Zeiten der Inklusion immer offener die Rolle des besten, umsichtigsten und gerechtesten Erziehers auf den Leib. Sie nehmen Kindergartenkinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen ebenso an die Hand wie später die Grundschüler mit Hyperaktivität oder die Hauptschüler oder Gymnasiasten mit hartnäckigen emotionalen Lernstörungen.

Es steckt keine Ideologie hinter der Entwicklung. Sie passiert einfach. Wenn ein Kind mit vier Jahren nicht ordentlich Deutsch spricht, soll es in Berlin schon bald in den Kindergarten gezwungen werden. Hier aber beginnt ein Rollentausch, der später nicht korrigiert, sondern ausgeweitet wird. Der Erzieher tritt in die Verantwortung der Eltern. Reichen jetzt die Deutschkenntnisse bei der Einschulung nicht aus, haben die Kita und ihr Personal versagt. Das Kind aber macht idealerweise in einer Ganztagsschule mit Hausaufgabenbetreuung und Hort weiter. Schwächelt es hier, treten Inklusionsfachleute auf den Plan, die eine emotionale oder soziale Beeinträchtigung attestieren. Förderstunden werden erteilt.

Das System schafft sich seine Nachfrage selbst

2,68 Millionen Studierende sind zum Wintersemester 2014/15 eingeschrieben.
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© dpa

Das Ziel ist klar und richtig: Kein Kind soll zurück gelassen werden. Dafür aber nimmt man in Kauf, dass alle ein bisschen zurückfallen. Bis zum Schulabschluss haben nicht nur die betroffenen Kinder gelernt, dass Leistung relativ ist. Selbst in der Mathematik gibt es nicht mehr richtig oder falsch, sondern richtig , „Einladung zum Mathe-Club“, „Förderbedarf“ und „Sonderförderbedarf“. Gewürdigt wird fortan nicht die Leistung, sondern die Anstrengung – eine Zwei sollte in jeder Stufe drin sein.

Das System schafft sich seine Nachfrage selbst. Seitdem die Kinder die Schule nicht mehr automatisch verlassen müssen und auch keine schlechten Noten zu befürchten haben, wenn Förderbedarf festgestellt wird, machen auch die Eltern eher mit. Inzwischen sind fast sieben Prozent jedes Jahrgangs sonderförderbedürftig. In den 90er Jahren lag die Quote noch bei unter fünf Prozent. Der Zuwachs speist sich vor allem aus der Diagnose „soziale und emotionale Entwicklungsstörung“. Wer aber schon in den ersten Jahren der Schulzeit erfährt, dass unbeherrschtes Verhalten in der Klasse, Geschrei und Hiebe auf dem Pausenhof und Lerndefizite auf bisher unentdecktem Sonderförderbedarf beruhen, erfährt auch, dass eigenes Bestreben nicht nötig ist.

Die ungeförderten Schüler sind die Leidtragenden, die sehr guten Schüler die Betrogenen

Die Dozentin starrt den Studenten entgeistert an: „Ich dachte eigentlich, dass SIE mir erklären, was Sie tun wollen, um das Studium zu schaffen.“

Die ungeförderten Schüler sind die Leidtragenden, die sehr guten Schüler die Betrogenen: Nicht nur, weil die guten und die befriedigenden Schüler die geringste Aufmerksamkeit der Lehrer erhalten, so der Bildungsbericht 2014, den Bund und Länder in Auftrag geben. Viele der sozial und emotional gestörten Kinder und Jugendlichen sind kaum zu bändigen und beanspruchen nicht nur die volle Aufmerksamkeit der Inklusionspädagogen, sondern auch die der Klassenlehrer und der Mitschüler.

Zuerst verschiebt sich die Verantwortung, dann der Anspruch, dann der Notenspiegel. Wenn nicht mehr Fähigkeiten in einem Fach bewertet werden, sondern das individuelle Bemühen honoriert wird, werden die Noten unter dem Strich für alle immer besser. Denn das System schützt sich selbst. In Mecklenburg-Vorpommern erreichen zwei Drittel der Drittklässler in Rechtschreibung nicht den Regelstandard in Deutsch. Die Landesregierung – die diese Ergebnisse bis zu einer Anfrage der Linkspartei im vergangenen Monat unter Verschluss hielt – erklärte dazu, die Vergleichsarbeit „Vera“ werde zwar in der dritten Klasse geschrieben, frage aber das Niveau der vierten Klasse ab. „Vera ist somit kein Instrument, mit dem das Erreichen der Lernziele überprüft werden kann“, war das Fazit. Aha. Dazu wurde „Vera“ erfunden.

Wie politisch die Beschreibung von Bildungsstandards sind, zeigt nicht nur Mecklenburg-Vorpommern. Ausgerechnet im Bildungsmusterland Bayern justierte Kultusminister Ludwig Spaenle 2011 die Durchfallerquote persönlich nach. Damit die G8-Schüler ebenso gut abschneiden konnten wie die Jugendlichen, die erst nach neun Jahren die Prüfungen ablegten, wurden die Notenschnitte ein kleines bisschen angepasst.

An beispielhaften „Wissensinseln“ sollen Schüler erfahren, welche Dimensionen Geschichte haben kann

In Berlin und Brandenburg macht man es anders. Man passt die Rahmenlehrpläne dem an, was mutmaßlich alle Schüler irgendwie begreifen können. So wird es vom kommenden Jahr an wohl keinen Geschichtsunterricht in den Klassen fünf und sechs mehr geben. Statt dessen sollen die Schüler im Fach Gesellschaftswissenschaften unterrichtet werden. Nicht mehr historisches Wissen sollen sie pauken müssen, sondern an beispielhaften „Wissensinseln“ erfahren, welche Dimensionen und aktuellen Lebensweltbezüge die Geschichte haben kann, attestiert Michele Barricelli von der Leibniz–Universität Hannover in seinem Gutachten zu den Plänen. Wie groß die Inseln dann im Einzelfall werden dürfen? Nun, das hängt vom einzelnen Fünftklässler ab.

Viele Studenten müssen an der Uni erwerben, was sie eigentlich schon haben: Die Hochschulreife

2,68 Millionen Studierende sind zum Wintersemester 2014/15 eingeschrieben.
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Eines scheint jetzt schon klar zu sein: Schlauer werden die Schüler so nicht. Im vergangenen Jahr erregten fünf Universitätsprofessoren Aufsehen, als sie über die Mathe-Abituraufgaben in Hamburg beschwerten. Die Anforderungen seien lächerlich niedrig, monierten sie. Schon ein Unterstufenschüler könne die Aufgaben mit einem Taschenrechner und durchschnittlicher Lesekompetenz lösen. Man brauche keinerlei Verständnis von Mathematik, um in Hamburg in diesem Fach Abitur machen zu können. Gefragt wurde beispielsweise nach der Absatzstrategie für ein neues Handy-Modell. Die Antwort stand drei Zeilen darunter: Was sich in den ersten drei Tagen nicht verkauft, wird nie verkauft.

Der Student: „Aber es ist doch noch nie jemand durchgefallen hier.“

Studenten dürfen alles bewerten - vom Unterrichtsmaterial bis zum Gebäck während der Kaffeepausen

So landen immer mehr Schüler mit sehr ordentlichen Abiturnoten und sehr hohen Erwartungen an den Hochschulen – und müssen erst einmal in Brückenkursen das erwerben, was sie auf dem Papier schon haben: die Hochschulreife. Wie dramatisch die Wissenslücken sind, zeigt die Tatsache, dass beispielsweise die Universität Potsdam im Wintersemester 2013/14 allein für die Studiengänge Biowissenschaften, Chemie, Geowissenschaften, Geoökologie und Mathematik zehn zweiwöchige Kurse anbieten musste – versehen mit der Warnung: „Die Kurse sind sehr voll.“ Weitere Kurse gab es für Physiker, Biologen, Ernährungswissenschaftler.

Nicht nur in naturwissenschaftlichen Fächern haben die Vorkurse inzwischen studienentscheidende Bedeutung. Auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften sind sie so entscheidend für den Erfolg eines Studiengangs, dass das Bundesbildungsministerium Brückenkurse mit Extra-Bildungs-Geld ausstattet. Selbst Studenten der Pflegewissenschaften, die vorher einen pflegerischen Beruf ausgeübt haben, bekommen Brückenkurse. Am Ende dürfen sie alles bewerten – vom Unterrichtsmaterial über die Qualität der Unterkunft bis zum Gebäck während der Kaffeepausen. Nur, warum man selbst in akademischen Ausbildungsgängen eine aufwendige Vorbereitung für den Beruf benötigt, den man ohnehin schon ausgeübt hat, ergibt sich aus den Befragungen nicht.

Obwohl kaum noch ein Student ohne diese Nachhilfestunden zu Beginn des Studiums auskommt, ist die Erwartung hoch, den Studiengang nicht nur erfolgreich, sondern auch mit einer sehr guten Note abzuschließen. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften gelte eine Vier mittlerweile als Katastrophe, erklärt Christiane Florin, Lehrbeauftragte für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn. In den „Laberwissenschaften“ fehlten objektive Maßstäbe zur Beurteilung der Leistung. Weil aber jede Teilnote im Studium in die Endbewertung einfließe, gebe man „dann doch lieber die Drei“, schreibt Florin in ihrem Buch „Warum unsere Studenten so angepasst sind“. Benotet man die Schlechten befriedigend, muss man den Dreier-Kandidaten mit einer Zwei unterscheidbar machen. Die guten und sehr guten Studenten bekommen durchweg die Eins. Fertig ist die neue akademische Elite.

Ist es wirklich unfair, einen Studenten durchfallen zu lassen?

„Es ist unfair, einen Studenten durchfallen zu lassen, der es nun doch schon so weit geschafft hat“, sagt ein Kollege der Dozentin, als sie ihn um Rat bittet. Und man müsse auch auf den Ruf des Studiengangs achten. Der sei bei den Studenten auch deshalb beliebt, weil die Betreuung so toll sei, dass traditionell alle gut abschnitten.

Ist es wirklich unfair? Bei einem Medizinstudenten wünscht sich schon aus eigenem Interesse niemand, dass Nachsicht mit schlechten Kandidaten geübt wird, bei einem Juristen oder einem Ingenieur auch nicht. Hier hat eine mangelhafte Ausbildung unter Umständen schwerwiegende Folgen für Dritte. Warum aber soll man bei der Lehrerausbildung, dem politikwissenschaftlichen oder dem Journalismusstudium Nachsicht walten lassen? Weil hier Mängel in der Ausbildung keinen unmittelbaren Schaden verursachen? Schlechte Lehrer sind das Letzte, was dieses Land vertragen kann.

Klar, dass der Vierer-Student um sein akademisches Überleben fürchtet. Verständlich ist auch, dass er nach immer freundlichen Bewertungen die Welt nicht mehr versteht, in die er geraten ist. Nachvollziehbar ist auch, warum er die Verantwortung dafür nicht bei sich, sondern bei den Dozenten suchen will. Das hat er schließlich gelernt – vom Kindergarten an: Es geht immer weiter, auch für Grenzanbieter. Man muss nur rechtzeitig die Grenzen verschieben.

Wenn die Inklusion den Marsch durch die Institutionen vollendet hat, erscheint auf dem Zeugnis jedes Handicap als ausgeglichen. Unbeantwortet aber bleibt die vertrackte Frage, von welchem Lebensalter an das Leistungsprinzip als zumutbar gelten darf. Wenn sie promovieren wollen? Wenn sie sich habilitieren wollen? Nie?

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