Nach Drohung der Regierung: Schweden schließt erste Restaurants in Stockholm
Die schwedische Regierung sendet ein Signal an Regelbrecher. Fünf Restaurants in Stockholm müssen wegen Verstoß gegen die Abstandsregeln schließen.
In Stockholm sind nach Kontrollen am Wochenende fünf Lokale wegen Verstoßes gegen die Abstandsregeln geschlossen worden. Dies berichten mehrere schwedische Medien darunter die Zeitung „Dagens Nyheter“ und der Sender Svt online.
In der Coronavirus-Krise geht Schweden bisher einen vergleichsweise moderaten Weg – verzeichnet aber auch eine deutlich höhere Zahl an Toten als beispielsweise die Nachbarländer Dänemark, Norwegen und Finnland und bezogen auf die Einwohnerzahl auch als Deutschland. Die rot-grüne Minderheitsregierung und der sie beratende Staatsepidemiologe Anders Tegnell stehen wegen ihrer Strategie international im Fokus und in der Kritik.
Auch zahlreiche schwedische Wissenschaftler fordern seit geraumer Zeit einen radikalen Strategiewechsel. Ist der mit dem heutigen Schritt eingeleitet? Das bleibt wohl abzuwarten.
Schwedens Gesundheitsbehörde meldete am Sonntag rund insgesamt 2194 Todesfälle in Folge einer Covid-19-Erkrankung. Die Zahl der täglichen Todesfälle ist in den vergangen Tagen gesunken: Von Donnerstag auf Freitag wurden noch 131 Todesfälle gemeldet, von Freitag auf Samstag rund 40 und am Sonntag waren es nur zwei Fälle.
Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der die Regierung berät, sagte der Zeitung DN zufolge aber: „Es ist wie wie immer am Wochenende, die Zahlen werden noch steigen.“ Tegnell bezog sich damit darauf, dass es Nachmeldungen geben wird. Damit waren auch die vergleichsweise hohen Nachmeldungen der vergangenen Tage begründet worden. Insgesamt gibt es bisher mehr als 18.600 bestätigte Infektionen.
Erst vor ein paar Tagen machte die Außenministerin noch einmal klar: Wir halten an unserem Kurs fest
Außenministerin Ann Linde machte in der zurückliegenden Woche nach einer Videokonferenz mit ihrem deutschen Kollegen Heiko Maas (SPD) klar, dass ihr Land dennoch am Kurs festhalten werde.
Wie schon zuvor versuchte sie den Eindruck zu zerstreuen, dass Schweden einen Sonderweg gehe. „Es ist ein Ammenmärchen, dass sich das Leben nicht geändert hat in Schweden", sagte die Sozialdemokratin. Die Empfehlungen der Regierung würden von vielen Bürgern in dem Land mit seinen rund 10,2, Millionen Einwohnern beachtet. „Deshalb werden wir unseren Weg weitergehen.“
Als einziges Land in Europa hat Schweden keine Ausgangsbeschränkungen verhängt. Kindertagesstätten und Grundschulen, Geschäfte, Fitnessstudios, Frisöre sowie Restaurants und Bars sind geöffnet. Für Lokale gibt es allerdings Auflagen: Hier darf nur an Tischen bedient werden und es gibt Abstandsregeln.
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Ansonsten wird empfohlen, Kontakte zu vermeiden, im Homeoffice zu arbeiten und bei geringsten Krankheitsanzeichen zu Hause zu bleiben. Außerdem sind Versammlungen von mehr als 50 Personen untersagt. Menschen über 70 sollen zu Hause bleiben. Verboten sind auch Besuche in Altenheimen, wo sich das Virus besonders verbreitet hat. Ein Drittel aller Todesfälle im Land werden aus Pflegeeinrichtungen gemeldet.
Maas machte nach dem Gespräch mit Linde deutlich, dass er trotz der anstehenden Änderungen der Regeln Schweden nicht als geeignetes Vorbild sieht. Deutschland werde „sehr, sehr vorsichtig mit den Lockerungen umgehen“, sagte der Außenminister. „Was wir vermeiden wollen, ist eine zweite Welle, die uns deutlich härter treffen wird, sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich“, betonte Maas.
Dass die schwedische Regierung so ganz zufrieden mit dem Verhalten ihrer Bürger nicht mehr ist, hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven bereits am Mittwoch deutlich gemacht. „Die Gefahr ist noch lange nicht vorbei“, sagte er. Die überwiegende Mehrheit der Bürger habe sich bisher an die Empfehlungen wie die Abstandsregeln gehalten.
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Aber: „Wir sind bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen.“ Allen Gastronomen müsse klar sein, „dass Restaurants und Bars geschlossen werden, wenn man sich nicht an die Regeln hält“. Am Freitag legte Innenminister Mikael Damberg bei einer Pressekonferenz in Stockholm nach. Durch das warme Frühlingswetter seien die Regeln durch einige Betriebe und Gäste missachtet worden. „Jeder trägt Verantwortung“, sagte Damberg. „Wie wir uns heute verhalten, entscheidet darüber, ob unser Gesundheitssystem in zwei Wochen noch funktioniert.“
Bei den Maßgaben der Gesundheitsbehörde handele es sich nicht um Ratschläge, sondern um Richtlinien, die befolgt werden sollten. „Ansonsten werden diese Betriebe geschlossen“, sagte Damberg. Restaurants und Straßencafés in der Hauptstadt würden von nun an intensiver überprüft werden. Auch alle anderen Kommunen seien beauftragt, über die Kontrollen in den Lokalen Bericht zu erstatten. Damberg forderte zudem die Bürger auf, Verstöße gegen die Regeln zu melden.
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Dass die schwedische Regierung es mit ihrer Drohung ernst meint, machte sie am Sonntag deutlich. Nach Kontrollen am Wochenende wurden in Stockholm fünf Lokale wegen Verstoßes gegen die Abstandsregeln geschlossen. Dies berichten mehrere schwedische Medien, darunter die Zeitung "Dagens Nyheter" und der Sender SVT online.
Stockholm ist in Schweden von der Pandemie bisher am heftigsten betroffen. Mehr als die Hälfte aller Todesfälle werden aus der Hauptstadtregion gemeldet – am Freitag waren es 1192. Betroffen sind vor allem auch die Vororte mit oft hohem Migrationsanteil. So sind in Rinkeby und Kista besonders Menschen aus Somalia, Syrien und dem Irak an Covid-19 erkrankt.
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„Viele leben auf engem Raum, und es können gleich mehrere Generationen in derselben Wohnung leben“, berichtete Jihan Mohamed, Vorsitzender des Schwedisch-Somalischen Ärztevereins, dem Nachrichtensender SVT. „Gleichzeitig wissen wir, dass die allgemeine Gesundheit in diesen Gegenden meist schlechter ist.“
Anzahl der Verstorbenen pro eine Million Einwohner (Stand Freitag, 24. April, 14 Uhr; Quelle Sveriges Television/Johns Hopkins Universität/Worldometer)
- Schweden: 198,5
- Norwegen: 36,5
- Dänemark: 68
- Finnland: 31,2
- Deutschland: 67,2
- USA: 152,7
- Italien: 422,8
- Spanien: 474,2
- Großbritannien: 282,6
- Frankreich: 326,8
- Südkorea: 4,6
- Belgien 568,2
Premier Löfven hatte zum zu erwartenden Ausmaß der Pandemie bereits am 3. April der Zeitung „Dagens Nyheter“ gesagt, Schweden verfolge die Strategie, den Anstieg der Infektionsfälle zu verzögern, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. „Aber das beinhaltet zugleich, dass wir weitere Schwerkranke haben werden, die Intensivpflege benötigen, wir werden bedeutend mehr Tote haben. Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen. Darauf sollten wir uns einstellen.“
Beraten wird die Löfven-Regierung vom Staatsepidemiologen Tegnell, der nichts von den Lockdown-Maßnahmen anderer Länder hält, auch die Schließungen der Kindertagesstätten und Grundschulen sei nicht notwendig. „Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen“, hat der 64-Jährige wiederholt gesagt.
Tegnell dementiert heftig, er würde Menschenleben gegen wirtschaftlichen Vorteil tauschen. Er verweist auf seine Erkenntnisse für die Weltgesundheitsorganisation bei Masern in Laos, Ebola im Kongo und der H1N1-Grippe 2009 in Schweden. Man brauche nachhaltige Maßnahmen und dürfe nicht vergessen, dass auch strenge Verbote gesundheitliche Folgen haben: Isolation und Quarantäne könnten Langzeitschäden bei Körper und Geist auslösen. Zudem ließen sich Schwedens Maßnahmen problemlos lange durchhalten – eine zweite Welle brauche man anders als die Nachbarn, die sich für den Lockdown entschieden hatten und die Maßnahmen jetzt langsam lockern, nicht zu befürchten.
Staatsepidemiologe Tegnell gibt Fehleinsätzungen zu
Tegnell erwartet daher bisher, dass sich die Zahl der Toten im internationalen Vergleich angleicht und führte die hohe Zahl der registrierten Todesfälle in den vergangenen Tagen auf Nachmeldungen zurück. Nun gab Tegnell gegenüber dem schwedischen Radio-Nachrichtenkanal Ekot allerdings zu, dass die Gesundheitsbehörde und er selbst die Entwicklung der Todeszahlen nicht richtig beurteilt haben.
„Dass ich und andere (...) die Nachmeldungen und die Entwicklungen unterschätzt haben, wirkt im Rückblick ganz klar.“ Er habe kein Problem damit, dies zuzugeben. Die Behörde sei davon ausgegangen, dass es weniger Nachmeldungen in der Statistik geben würde.
Bei der täglichen Pressekonferenz am Freitag sagte Tegnell, es werde offenbar deutlich mehr Todesfälle geben als in einer normalen Grippesaison. In der Zeit vom 23. März bis 5. April seien in Schweden rund 1000 Todesfälle mehr als gewöhnlich verzeichnet worden.
Weitere Restriktionen werde die Gesundheitsbehörde aber zum aktuellen Zeitpunkt nicht vorschlagen. Ein hoher Anteil der Todesfälle werde aus Pflegeheimen gemeldet. Wichtig sei daher herauszufinden, warum es dort Infektionen gebe und „und Modelle zu entwickeln, um das Risiko so gut wie möglich zu minimieren“.
Tegnell ist auch beunruhigt darüber, dass die Zahl der bestätigten Neuinfektionen wieder steigt. „Wir liegen auf einem leicht höheren Niveau“, sagte er dem Sender SVT. „Möglicherweise ist das ein frühes Zeichen, dass wir anfangen, uns zu entspannen.“