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Zurück in der Schule sind diese Gymnasiasten - ob das allerdings eine gute Idee ist, bezweifeln Virologen. Und eine neue Modellierungsstudie über die Auswirkungen von Schulöffnungen in Berlin gibt ihnen Recht.
© imago images/Action Pictures
Exklusiv

Zweite Coronavirus-Welle: Schulöffnungen könnten zu einem drastischen Anstieg der Infektionen führen

Selbst wenn Kontaktbeschränkungen an Schulen einigermaßen greifen, droht eine zweite Welle von Covid-19-Erkrankungen. Das zeigt eine Studie am Beispiel Berlin.

Die Schulen in Deutschland werden in diesen Tagen wieder geöffnet, stufenweise erst für die älteren Schüler, dann für jüngere Jahrgänge. In kürzester Zeit sind Länder, Städte, Gemeinden und jede Schule im Einzelnen gehalten, Hygienepläne und Abstandsregeln für Lehrer und Schüler zu entwerfen.

Doch kann es gelingen, Kinder und junge Erwachsene auf Distanz zu beschulen? Kann an Orten, an denen sonst Austausch und soziale Nähe herrscht, plötzlich Social Distancing durchgesetzt werden? Und welche Folgen hat das für den Verlauf der Epidemie? Dass Pandemien nicht mit einer Welle vorbei sind, sondern mitunter erneut massiv aufflammen können, ist aus der Geschichte bekannt. Doch was bedeutet das für die Entwicklung dieser Covid-19-Epidemie?

Für Berlin haben Forscher die Auswirkungen der Schulöffnungen jetzt in einer Modellierung berechnet, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt. Das Ergebnis der Experten ist beunruhigend.

Selbst wenn es mit Hilfe jetzt erlassener Distanzierungsregeln in Berliner Schulen gelingen sollte, die infektionsrelevanten nahen Kontakte von Schülern im Vergleich zu der Zeit vor den Schulschließungen am 15. März um die Hälfte zu reduzieren, würde es in der Stadt wieder zu einer exponentiellen, für das Gesundheitssystem kritischen Virus-Ausbreitung kommen. Zu diesem Ergebnis kommt die internationale Forschungsgruppe Mocos (Modelling Coronavirus Spread), zu der Wolfgang Bock, Mathematiker an der Universität Kaiserslautern, gehört.

Coronavirus: Sehr viel weniger Kontakte als vor der Schulschließung nötig

Wenn es gelingt, die Kontaktfreudigkeit der 15- bis 18-Jährigen in der Schule auf 18 Prozent zu reduzieren, infizieren sich demnach binnen 300 Tagen etwa 7800 Berliner und 156 sterben insgesamt. Davon abziehen muss man etwa 5500 Infizierte und 128 Tote, die es auch ohne Schulschließungen geben würde. Doch wenn nur eine Kontaktreduzierung auf 80 Prozent in diesem Altersbereich erreicht wird, also 8 statt 10 Kontakten, dann werden fast dreißig Mal so viele Berliner, etwa 200.000, infiziert und etwa 3000 Menschen sterben. Selbst eine Halbierung der Kontakte der Oberschüler (48 Prozent) führt noch zu rund 2700 Toten und 185.000 Infizierten.

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Bei ihren Berechnungen gehen die Forscher allerdings davon aus, dass der Rest der Bevölkerung seine Kontakte weiter drastisch reduziert – auf etwa neun Prozent verglichen zur Zeit vor dem Lockdown. Schon bei einer Verdopplung der Kontakte in der Gesamtbevölkerung (auf 18 Prozent), was laut Bock noch immer „relativ restriktiv“ wäre, wirken sich die Schulöffnungen aus: Zu 19.000 Covid-19 Toten, die in diesem Szenario auch ohne offene Schulen zustande kämen, wären durch die Schulöffnungen weitere 3600 Covid-19-Tote nach 300 Tagen zu addieren, wenn 15- bis 18-Jährige nur halb so viel Kontakte wie üblicherweise haben.

Diese Zahlen könnten sogar noch übertroffen werden. Denn die Forscher gehen in ihrer Simulation davon aus, dass die strengen Kontaktreduzierungen außerhalb der Schulen aufrecht erhalten bleiben – bei neun Prozent im Vergleich zu vor dem 15. März. Ein Berücksichtigen der derzeitigen Lockerungsmaßnahmen in Geschäften, Arbeitsplätzen oder Freizeiteinrichtungen würde also eher zu mehr Infizierten und Todesfällen führen. Außerdem starten sie die Berechnung mit etwa 1000 Infizierten in der 3,4-Millionen-Stadt, was in etwa der Anzahl der derzeitig Erkrankten entspricht.

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Großzügig einkalkuliert sind auch Gesundheitsbehörden, denen es gelingt, zumindest jeden zehnten mild an Covid-19 Erkrankten binnen zwei Tagen zu finden und für ihn und seine Kontakte die entsprechenden Quarantänemaßnahmen einzuleiten. Des weiteren haben sich die Forscher auf 15- bis 18-Jährige konzentriert, weil man sie „fast wie Erwachsene“ behandeln könne, was die Infektionsparameter betrifft, sagt Bock.

Bei Jüngeren gebe es noch Diskussionen darüber, wie und ob sich diese Parameter unterscheiden. „Das wollten wir abwarten.“ Einer Studie des Forschungsteams um den Charité-Virologen Christian Drosten zufolge, finden sich in den Altersgruppen 0 bis 6, 7-11 und 12-19 keine signifikanten Unterschiede zu älteren, was die Menge der Viren im Rachen Infizierter betrifft. Kinder seien daher "vermutlich genauso infektiös sind wie Erwachsene". Schulöffnungen auch für die jüngeren Jahrgänge könnten also das von Bocks Team berechnete Szenario noch verschärfen.

Andere Modellierer kommen zu ähnlichen Ergebnissen

Dass die Prognose der Mocos-Forscher in die richtige Richtung geht, meint auch Kai Nagel von der Technischen Universität. Sein Team kommt – mit einem Verfahren basierend auf gemessenen Kontakthäufigkeiten von Personen – zu ganz ähnlichen Ergebnissen. „Wir können etwas mehr darüber sagen, was passiert, wenn man Freizeiteinrichtungen zu macht oder Geschäfte schließt, dafür sind die Kollegen etwas genauer in der Demographie, also Altersunterschieden im Kontaktverhalten.“ Doch das Ergebnis sei vergleichbar.

Zwar will sich Nagel „nicht so weit aus dem Fenster lehnen“ wie Bocks Team, das Schulöffnungen klar als „zu früh“ bezeichnet. Das sei am Ende doch eine politische Entscheidung, meint Nagel. „Aber es ist richtig, dass man wenig Raum für die Lockerungen der Kontaktbeschränkungen hat, da man selbst bei nur etwas Zuviel der Öffnungen rasch einen exponentiellen Anstieg bekommt.“

Ein wenig mehr Kontakte in der Gesamtbevölkerung, sehr viel mehr Infektionen

Auch zur Lockerung der Kontaktbeschränkungen in der Gesamtbevölkerung Berlins äußert sich das Team von Bock: „Mit einer Kontaktreduzierung von 54 Prozent kann selbst eine Detektion aller milden Fälle nach zwei Tagen nicht verhindern, dass eine Epidemie entsteht, die die Belastungsgrenze der Intensivstationen übersteigt und das Gesundheitssystem zusammenbrechen lässt.“ Binnen 300 Tagen wären über eine Million Menschen in Berlin infiziert.

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Um auf der „sicheren“ Seite zu sein, also die Infektionszahlen unter der Belastungsgrenze des Gesundheitssystems zu halten, dürften die Berliner nur noch etwa 24 Prozent ihrer Kontaktfreudigkeit (nur 2,4 statt 10 Kontakte) im Vergleich zur Zeit vor dem 15. März an den Tag legen – vorausgesetzt die Gesundheitsbehörden entdecken und isolieren zumindest jeden zweiten Infektionsfall innerhalb von zwei Tagen. Doch schon wenn die Städter nur sechs Prozent mehr Kontakte haben, also 3 statt 10 wie vor Corona, dann schnellen die Infektionszahlen binnen 300 Tagen auf mehrere Hunderttausend.

Der Spielraum zwischen gerade noch tolerierbarer und zu großer Kontaktfreudigkeit sei „sehr klein“. Das lasse sich auch durch „massives Testen“ nicht ändern. Aber je häufiger und schneller Infizierte von den Behörden entdeckt und Quarantänemaßnahmen zugeführt würden, umso mehr Kontakte könnte man der Bevölkerung erlauben, ohne eine kritische Ausbreitung zu riskieren.

„Man darf die Schulen nicht allein lassen”, sagt Bock. Es brauche eine hohe Testkapazität, und Schulen müssten Zeit und Mittel haben, die Kontaktbeschränkungen zu organisieren. Doch selbst wenn all das perfekt funktioniert: Mehr als etwa halb so viele Kontakte wie vor Coronazeiten (48 Prozent) darf es dem Szenario der Forscher zufolge in der Bevölkerung auf keinen Fall geben.

Verknüpfung der Corona-Infektionsketten über die Schulen und Familien

Hauptgrund dafür sei, so die Forscher, dass sich innerhalb eines Haushalts, in dem es einen Sars-CoV-2-Infizierten mit mildem Krankheitsverlauf gibt, bald auch der Rest der Familie oder Mitbewohner ansteckt. Es reiche daher schon eine kleine Zahl von Infektionsketten, die einen Haushalt mit einem anderen verknüpfen, um große Effekte auf die Epidemie auszulösen und zu einer „überkritischen“ Ausbreitung führen.

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Es wird vermutet, dass Schulen bei dieser Verknüpfung der Ketten eine wichtige Rolle spielen. Wenn die Kontaktreduzierung nicht aufrechterhalten wird, bis die Epidemie zum Stillstand gekommen ist, sei ein zweiter Ausbruch, eine zweite Welle möglich, schlussfolgern die Forscher abschließend: „Die Öffnung von Schulen und die Reduzierung der sozialen Distanzierungsmaßnahmen kommt nach unserer Auffassung zu früh.“

Skeptisch, dass Kontaktbeschränkungen an Schulen langfristig funktionieren

Norman Heise, Vorsitzender des Landeselternausschusses, ist skeptisch, ob eine Kontaktrate von nur 18 Prozent im Vergleich zu Vor-Coronazeiten möglich ist, wenn immer mehr Schüler und Schülerinnen in die Klassenräume zurückkehren.

Seit Montag sind Schulen wieder geöffnet, tatsächlich seien die ersten Tage an den Schulen in Berlin sehr unterschiedlich verlaufen, berichtet Heise. Die Schüler wurden belehrt, wie sie sich verhalten sollten. Einige hielten sich an die Abstandsregeln, das Einwegesystem habe teils gut funktioniert, so dass die Gänge recht leer gebliben waren.

An anderen Schulen aber umarmten und herzten sich die Jugendlichen zur Begrüßung, zum Abschied, dann direkt vor dem Schulgebäude. Es sei zu typischen Grüppchenbildungen gekommen. Auch erste Ordnungsmaßnahmen wurden angekündigt und auch ausgesprochen. Nach einer Verwarnung folgt der Verweis, dann dürfen Schüler nicht mehr in die Schule. Manche könnten es genau darauf anlegen und deshalb gegen das Kontaktverbot verstoßen.

"Wir haben von keiner Schule gehört, die während der Notbetreuungszeit schließen musste, weil es zu Infektionen gekommen war", sagte Heise dem Tagesspiegel. "Das heißt, dass das Abstandsgebot das Mittel der Wahl ist und funktioniert. Wie das angesichts erhöhter Schülerzahlen wird, bleibt abzuwarten.

Aber es wird wohl schwierig." Je mehr Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen zurückkehren, desto mehr werden auch den ÖPNV nutzen, was zusätzliche Berührungspunkte schaffe, warnte Heise. Einige Schulen haben bereits eine Maskenpflicht - wie im ÖPNV - eingeführt, die teilweise nur während der Pausen, teilweise auch während des Unterrichts gilt. (Mitarbeit: Ronja Ringelstein)

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