Streit um Orthographie von Schülern: Schlechte Rechtschreibung, weil zu wenig gelesen wird
Wie steht es um die Rechtschreibkenntnisse von Schülern? Bildungsforscher widersprechen der Kritik des Chefs des Philologenverbandes Heinz-Peter Meidinger.
Wie steht es um die Rechtschreibkenntnisse von Schülerinnen und Schülern in Deutschland? Eine Debatte über diese Frage hat Heinz-Peter Meidinger, der Vorsitzende des Philologenverbandes, angestoßen. Die Rechtschreibleistungen würden auch an Gymnasien immer schwächer würden, sagte Meidinger der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die Hauptursache sehe er darin, „dass wir es insbesondere bei den meisten Jungen mittlerweile mit einer Generation von Jugendlichen zu tun haben, die kaum mehr liest“. Wissenschaftler widersprachen Meidinger am Dienstag. Petra Stanat, die Direktorin des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), etwa sagte auf Anfrage: „Die Rechtschreibkenntnisse sind nicht so katastrophal wie häufig angenommen wird.“ Hans Brügelmann, emeritierter Professor für Schriftsprachdidaktik an der Uni Siegen, sprach von „groben Vereinfachungen und Einseitigkeiten“.
Kritisch sieht Meidinger auch die Rechtschreibreform. Sie sei zwar nicht die Hauptursache für mangelnde Rechtschreibkenntnisse. Die Reform habe aber „viel weniger gebracht, als Befürworter versprochen haben“. Auf einzelnen Feldern wie der Groß- und Kleinschreibung sei die Rechtschreibung „etwas logischer geworden, sehr viel einfacher aber sicher nicht“.
Meidinger reagierte damit auf eine aktuelle Studie des Saarbrücker Deutschdidaktikers Uwe Grund. Er war nach der Auswertung nationaler Ländervergleiche zu Schülerleistungen zu dem Schluss gekommen, dass „die Hälfte aller Neuntklässler nur mangelhafte Rechtschreibkenntnisse hat“. Dies führt Grund darauf zurück, dass das neue, ab 1996 eingeführte Regelwerk für den Schulunterricht „untauglich“ sei. Die Regeln seien widersprüchlich und forderten „ungrammatische Entscheidungen“.
"Rechtschreibunterricht wurde vernachlässigt"
Meidinger wirft nun der Bildungspolitik vor, den Rechtschreibunterricht in den Lehrplänen seit den 90er Jahren systematisch zu vernachlässigen. Es sei ein „schwerer Fehler“, dass in einigen Bundesländern keine benoteten Rechtschreibdiktate mehr geschrieben werden dürften. In keinem anderen europäischen Land werde zudem dem muttersprachlichen Unterricht in den Stundentafeln so wenig Platz eingeräumt.
Hapert es also am Diktateschreiben? Nein, sagt Nanna Fuhrhop, Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Oldenburg. In der Deutschdidaktik habe sich vielmehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass es „pädagogisch nicht sinnvoll ist, Texte schreiben zu lassen, nur um den Schülern Fehler nachzuweisen“. Viel wichtiger sei die Lesekompetenz und das Textverständnis, das vor allem durch Texte gefördert würde, die Schüler selber verfassen. Diktate würden ihnen dagegen inhaltlich nichts vermitteln, sagt Fuhrhop. In früheren Zeiten hätten es sich Lehrkräfte mit dem bloßen „falsch“ und „richtig“ in der Bewertung von Diktaten leicht gemacht. Statt dessen sollten sie „mit Fehlern konstruktiv umgehen“. Dazu müssten die Lehrkräfte das grammatische System, das der Schreibung zugrunde liegt, verstehen. Dies komme in der Lehrerbildung vielerorts zu kurz.
Gleichzeitig beobachtet Fuhrhop bei Lehrkräften und Lehramtsstudierenden eine Verunsicherung hinsichtlich der Rechtschreibung, die auch sie auf die Rechtschreibreform von 1996 zurückführt. „Weil man sich selbst nicht mehr so sicher ist, wird eine korrekte Rechtschreibung von den Schüler nicht mehr unbedingt verlangt“, meint Fuhrhop.
Andere Bildungsforscher widersprechen
Andere Bildungsforscher kommen zu anderen Schlüssen als Uwe Grund, was die Rechtschreibfähigkeiten von Schülern angeht. IQB-Direktorin Petra Stanat verweist auf den Ländervergleich des IQB aus dem Jahr 2009, bei dem auch die Orthografie-Kenntnisse von Neuntklässlern überprüft wurden, die den Mittleren Schulabschluss anstreben. Damals wurden zwar große Unterschiede zwischen den Bundesländern festgestellt. Der Anteil derjenigen, die nicht einmal die Mindeststandards erfüllten, war aber vergleichsweise gering: In Berlin lag die Quote etwa bei 4,4 Prozent. „Das ist nicht so schlecht“, sagt Stanat. Bei Grundschülern lag diese Quote 2011 deutschlandweit bei 12,6 Prozent. Das IQB will im Herbst eine Studie herausbringen, die die Ergebnisse von 2009 mit Resultaten aus dem vergangenen Jahr vergleicht.
Auch für den Schriftsprach- und Grundschuldidaktiker Hans Brügelmann lässt sich kein Leistungsverfall ableiten: Im Gegenteil würden einige Untersuchungen für die Grundschule aus den letzten zehn Jahren „eher für eine Leistungszunahme sprechen“. Rechtschreiblernen sei mit dem Ende der Grundschule nicht abgeschlossen, vielmehr würden die Kompetenzen über die gesamte Schulzeit hinweg noch erheblich zunehmen. Zudem müsse man sich klar sein, dass Rechtschreibung eine „dienende Funktion“ im Rahmen einer umfassenden Schriftsprachkompetenz habe: Das Ziel, möglichst korrekt zu schreiben, dürfe andere Formen der Schriftsprache, wie das Lesen und Verfassen von Texten, nicht dominieren. „Wem nutzt es, Belanglosigkeiten oder inhaltlichen Unsinn orthografisch korrekt schreiben zu können?“
Lesen Schüler wirklich weniger?
Führt weniger Lesen automatisch zu schlechterer Rechtschreibung, wie Meidinger meint? Den Rückschluss hält Stanat für „nicht zulässig“: „Selbst wenn Schüler wenig lesen, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie nicht korrekt schreiben können.“ Sie zweifelt ohnehin den Befund an, dass Schüler immer weniger lesen. Zwar sei es „frappierend“, wie viele Schüler etwa bei der Pisa-Studie angeben, sie würden nicht zum Vergnügen lesen. Stanat fragt sich aber, was das konkret bedeutet. Denn Lesen beschränke sich ja nicht auf Bücher. Gerade die heutige Generation der Digital Natives, die quasi dauerhaft online ist, würde andauernd mit Texten konfrontiert: „Wenn man im Internet unterwegs ist, liest man ständig.“
Fest steht jedenfalls: Die Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler haben keineswegs abgenommen – sondern sind ganz im Gegenteil gestiegen. Bei der Pisa-Studie hat das Durchschnittsergebnis der deutschen Schüler seit dem ersten Test im Jahr 2000 kontinuierlich zugelegt. Inzwischen liegt Deutschland bei den Lesekompetenzen damit über dem OECD-Mittelwert.
Amory Burchard, Tilmann Warnecke
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