Rechtschreibung: Das Ende des Lesens, das Ende des Schreibens
In vielen Schulen lernen Schüler nicht wegen, sondern trotz des Unterrichts richtig zu schreiben. Besonders sozial schwache Kinder sind betroffen.
Gibt es in Deutschland eine Rechtschreibkrise, hervorgerufen von Lehrern und Kultusministerien gleichermaßen? Nach der Lektüre der kürzlich erschienenen Titelgeschichte „Die neue Schlechtschreibung“ im Spiegel drängt sich diese Vermutung zwingend auf. An den Pranger gestellt werden Pädagogen, die in den neunziger Jahren eine Leselernmethode propagierten und praktizierten, mit der Schulanfänger von Anfang an lustvoll mit Buchstaben und kleinen Texten umgehen sollten, indem sie Erlebtes einfach aufschrieben, ohne die Wörter in ihrer Schriftform schon zu kennen. Sie orientierten sich dabei an einer Laut-Tabelle. Jedem Buchstaben ist ein Bild zugeordnet, beispielsweise eine Tasse dem T. Wenn sie Tomate schreiben wollen, dann schreiben sie „Tumati“ oder „Domatä“, jeweils abhängig von ihrer Aussprache des Wortes. Wie das Wort richtig geschrieben wird, lernen sie ein oder zwei Jahre später. Oder eben gar nicht, weil sie ja für ihre kreative Schreibung schon gelobt wurden. Ja, diese Methode hat mit hoher Wahrscheinlichkeit sprachschwache Kinder zu Rechtschreibversagern getrimmt. Sprachstarken mit Leselust konnte sie nichts anhaben. Die haben Lesen und Schreiben trotz der Schule gelernt, wie vieles andere auch.
Doch die in Studien neuerdings gemessene stark gewachsene Fehlerquote bei Schülern aller Sozialschichten (am höchsten bei den sozial schwachen) hat noch viele andere Ursachen: die mehrfach reformierte Rechtschreibreform zwischen 1996 und 2006 mit dem Verlust der einheitlichen Schreibpraxis. Wer spielt heute noch Scrabble statt fernzusehen? Nicht mal mehr die Steinbrücks! Bei Facebook reichen Abkürzungen wie 4U (for you, für dich) oder HDL (Hab dich lieb) und bei E-Mails kann man sich immer mit Tippfehlern rausreden.
Na, wenn das so ist, wozu sich überhaupt noch mit Rechtschreibung abquälen? Stimmt nicht doch der Aufruf vieler Achtundsechziger „Befreit die Schule von dem lähmenden Zwang der Rechtschreibnormen!“ Enitshuligenzibiti, wenn jeder so schreibt, wie er denkt oder gerade kann, ist es aus mit dem Lesen und jeder schriftlichen Kommunikation.
Barbara John
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