Sexualerziehung im Einwanderungsland: Reden über Rollenbilder
Braucht Deutschland eine neue Sexualpädagogik für Zuwanderer? Experten mahnen Differenzierung an - und stellen Modellprojekte vor.
Seit Köln ist alles anders. Die Silvesternacht 2015/2016 mit ihren sexuellen und gewaltsamen Übergriffen hat sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben. Der öffentliche Diskurs hat sich damals verschoben. Medial stehen seitdem die Probleme im Vordergrund: Was macht die Zuwanderung mit der offenen Gesellschaft? Welche Werte und Geschlechterbilder bringen die Flüchtlinge mit? Fragen, mit denen sich nun die Wissenschaft beschäftigen muss. Vor allem die Sexualpädagogik steht vor neuen, großen Aufgaben. Schließlich soll sie die konkreten methodischen Ansätze für eine erfolgreiche Integrationsarbeit liefern. Kann das gelingen?
Uwe Sielert, Helga Marburger und Christiane Griese haben sich – inmitten der aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte – an das heikle Thema herangewagt und den renommierten De Gruyter Verlag ebenfalls ins Boot holen können. Die drei Wissenschaftler, die in Kiel und Berlin im Bereich Sexualpädagogik und interkulturelle Erziehung forschen, lassen in ihrem soeben erschienenen Sammelband „Sexualität und Gender im Einwanderungsland“ viele Kolleginnen und Kollegen zu Wort kommen. Entstanden ist eine über 300-seitige Bestandsaufnahme: Wo stehen wir in Sachen Gender, Sexualität, Geschlechterverständnis – und was hat das alles mit Migration zu tun? Jetzt wurde das Buch an der Technischen Universität Berlin vorgestellt.
Eine These: Migranten werden "sexualisiert" wahrgenommen
Erste und wichtigste These aus dem Kreis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Der Migrationsdiskurs sei derzeit hochgradig sexualisiert. Das heißt, Migrantinnen und Migranten werden vor allem in Bezug auf Gender- und Sexualitätsthemen wahrgenommen. Was ins Bild passt, wird sofort Teil des großen Narrativs von den frauenverachtenden, respektlosen jungen Muslimen. Statistiken oder Fakten, die dem widersprechen, werden ausgeblendet. Dabei konnten die Experten in den vergangenen Jahren vermehrt verbale Ab- und Ausgrenzungen beobachten.
„Emanzipation, Aufklärung, Gleichberechtigung, Modernität – das wird Deutschland zugeschrieben. Alles andere wird ausgelagert“, erklärt Elisabeth Tuider von der Universität Kassel. Vor allem Menschen muslimischen Glaubens würden oft über einen Kamm geschert. Gängiges Argument: Aufgrund ihrer Religion hätten sie generell ein rückständigeres Rollenverständnis.
Das argumentative Muster dahinter – wir die Guten, die die Bösen – ist nicht neu. Pauschalisierungen und Projektionen ziehen sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte. Schon vor rund zweihundert Jahren empörten sich die Deutschen ausgiebig über ihre Nachbarn, die Franzosen. Denen eilte der Ruf voraus, ausschweifend zu leben. Im Nationalsozialismus wurde der jüdische Mann zur sexuellen Gefahr für die deutsche Frau stilisiert. Vorhandene Vorurteile konnten auf dieser Weise politisch perfekt instrumentalisiert werden. Dass sich solche rassistischen Stereotypisierungen wieder einschleichen, davor warnen die Sexualforscher. „Denn das kann Zündstoff und Brandbeschleuniger sein für reale Gewalt“, sagt Bernd Christmann von der Universität Münster.
Frauenverachtendes Verhalten hat eher soziale als religiöse Gründe
Doch wie gegensteuern, wie die Debatte versachlichen? Die Antwort, die die Wissenschaftler bei der Veranstaltung in der TU geben, lautet: genauer hinschauen, akribischer analysieren, gezielter ansetzen. Denn so homogen wie oft unterstellt sind die Einstellungen der Flüchtlinge bei näherem Hinsehen keineswegs. „Mitnichten kann man einer Kultur, einer Religion oder einem geografischen Raum pauschal etwas überstülpen“, sagt Christmann. Das bestätigt auch eine Studie, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2012 beauftragt hat. Eines der zentrale Ergebnisse: „Es gibt keinen pauschalen Zusammenhang zwischen dem islamischen Glauben und der Geschlechterrolleneinstellung“, fasst Yasemin El-Menouar von der Bertelsmann-Stiftung zusammen. Viel wichtiger für das jeweilige Weltbild seien sozio-ökonomische Faktoren, Alter, Bildung, Herkunftsland und Herkunftsmilieu. Frauenverachtendes oder homophobes Verhalten hat demnach andere als religiöse Ursachen. Die sozialen Umstände wurden aber bisher bei empirischen Untersuchungen oft nicht berücksichtigt. Das müsse sich ändern, fordern die Forschenden an der TU Berlin.
Denn mit grobem Schubladendenken lassen sich die Konflikte der Zuwanderungsgesellschaft nicht lösen. Ebenso wenig wie mit der pauschalen Aufforderung an die Migranten, sich dem hiesigen Lebensstil anzupassen. Zumal auch Deutschland beim Thema Gender und Sexualität kein Land in trauter Einigkeit ist. Zwar hat sich der Blick auf die Geschlechterverhältnisse seit den 1960er Jahren in den westlichen Ländern massiv gewandelt. Die sexuelle Vielfalt ist mittlerweile in vielen Teilen der Gesellschaft akzeptiert. Trotzdem gibt es neben der fortschreitenden Liberalisierung durchaus auch traditionelle Milieus und Roll-back-Tendenzen, wie Autoren des Sammelbands feststellen.
Beispiele sexualpädagogischer Arbeit mit Geflüchteten
Für die pädagogische Arbeit in Kindergärten und Schulen brauche es deshalb eine „interkulturell kompetente Grundhaltung“. Anders gesagt: Am offenen, unvoreingenommenen Dialog von Mensch zu Mensch führt kein Weg vorbei. Im dritten Teil des Sammelbands zeigen die Autoren anhand etlicher Beispiele, wie eine solche sexualpädagogische Arbeit im Alltag aussehen kann. Denn es gibt sie bereits, die vielversprechenden Pilotprojekte: Workshops und Seminare an Schulen, Bildungsangebote in Kindergärten, Beratungs- und Begegnungszentren.
So berichtet Andreas Müller von einem „pro familia“-Projekt aus Bonn für unbegleitete, minderjährige Jungen aus Afghanistan. Behutsam tasteten sich die Pädagogen über viele Seminarsitzungen mit den Teilnehmern an Themen wie Körper, Liebe, Beziehungen, Sex heran. Offenbar mit Erfolg. „Nach unserer Wahrnehmung waren sie sehr dankbar, offen und lernwillig“, schreibt Müller. „Die Jungen bekamen eine Vorstellung von Freiheit und Rechten und eine Ahnung davon, dass sie auf den eigenen Lebens- und Liebesalltag bereichernd wirken können.“
Uwe Sielert, Helga Marburger, Christiane Griese (Hg.), Sexualität und Gender im Einwanderungsland. Öffentliche und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Ein Lehr- und Praxishandbuch. De Gruyter, 2018.