Broschüre des Berliner Senats: Kita-Ratgeber zu sexueller Vielfalt polarisiert
Der Berliner Senat gibt eine Handreichung zur Aufklärung heraus. Die AfD spricht von einer "Sex-Broschüre", die CDU möchte sie stoppen.
Wie reagiert man als Kita-Erzieherin, wenn ein Junge die Mutter bei „Vater, Mutter, Kind“ spielen will und die anderen Kinder das ablehnen? Soll man sich einmischen oder die Kinder das selbst regeln lassen? Simone Schmidt ist Leiterin der Kita „Kleine Schlaufüchse“ in Berlin-Buch – und sie erinnert sich an eine solche Situation. „Wir haben dann zusammen mit den Kindern hinterfragt, warum der Junge nicht die Mama spielen darf“, sagt sie. „Wir unterstützen die Kinder darin, dass man sich auch mal anders ausprobieren darf. Es ist ja eine Rolle und es kann auch zwei Mütter geben.“
Für solche und andere sensible Situationen im Kitaalltag gibt es seit Kurzem eine viel diskutierte Handreichung der Senatsverwaltung für Jugend. Der Titel: „Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben – Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik." Zu dem Fall in Simone Schmidts Kita heißt es darin unter anderem: „Kinder, die Prinzessin oder Elfe spielen, werden später keine Prinzessinnen oder Elfen.“
Fragen aus dem Alltag
Bereits 2009 beschloss der Berliner Senat die parlamentarische Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“. Für deren Umsetzung beauftragte der Senat die Bildungsinitiative Queerformat, die Fortbildungen mit Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe durchführt. 2013 fand ein Fachtag statt, aus dem die jetzt veröffentlichte, 140-seitige Handreichung hervorging.
„Die Fachtagung ist in der Kitawelt sehr gut angekommen“, sagt der Bildungsreferent Thomas Kugler von Queerformat. „Dabei ist deutlich geworden, dass die Fragen, die wir behandeln, Fragen aus der Praxis sind. Sie kommen aus der Kitapraxis heraus, nicht wir tragen sie hinein, wie jetzt vielfach vorgeworfen wird. Wir haben diese Fragen in den Seminaren der letzten sieben Jahre sehr häufig von Fachkräften gestellt bekommen und geben in der Handreichung fachlich begründete Antworten.“
Die Broschüre richtet sich an Pädagoginnen und Pädagogen und bietet Anregungen zu den Themen Geschlechter- und Familienvielfalt. So heißt es etwa: „Kleine Signale können für die Kinder, mit denen Sie arbeiten, ein großes und wichtiges Zeichen für Ihre Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen sein. (…) Deshalb ist es wichtig, dass Sie schon Kindern in jungen Jahren signalisieren: ’Du bist in Ordnung!’, ’Dein Körper ist richtig, so wie er ist!’, (…), ’Sich zu verlieben ist in Ordnung, unabhängig vom Geschlecht der Personen!’“
Grundlagentexte informieren über Intergeschlechtlichkeit, Kinderrechte oder die Situation von Kindern aus Regenbogenfamilien. Außerdem gibt die Broschüre konkrete Hilfestellungen für den Kitaalltag und stellt pädagogische Materialien vor, wie Bilderbücher, die die Themen Anderssein, Ausgrenzung, und gesellschaftliche Vielfalt thematisieren.
Kritik von AfD und CDU
„Sexualität war immer schon ein Thema in der Arbeit mit Kindern. Nur hatten wir früher überhaupt keine Vorstellung von sexueller Vielfalt – wenn überhaupt, dann von Homosexualität“, sagt Edeltraud Flindt. Sie ist seit 16 Jahren Leiterin einer Berliner Kindertagesstätte. Mit ihrem Team nahm sie an einer Fortbildung von Queerformat teil, die ihr Bewusstsein für die Bedürfnisse der Kinder schärfte. „Der klassische Fall ist ein Junge, der sich außerhalb von Fasching ein Kleid anzieht. Zugelassen haben wir das schon vorher, aber dank der Fortbildung ist unsere Sensibilität gewachsen. Wir beobachten jetzt, ob so etwas öfter vorkommt und können darauf eingehen. Unser Umgang mit solchen Situationen ist unbefangener geworden.“
Der offene Umgang mit Themen der sexuellen Vielfalt schürt bei manchen auch Ängste. Als „Sex-Broschüre“ wurde sie unter anderem von der AfD bezeichnet. Die CDU brachte einen Antrag ins Parlament ein, die Handreichung zu stoppen, da Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt nicht in Kindertagesstätten gehörten.
Kita-Leiterin Flindt hält das für Unsinn: „Kinder werden nur überfordert, wenn sie keine klaren Hilfestellungen haben und Unsicherheit spüren. Die pädagogische Praxis zeigt: Kindern, die es nicht betrifft, schadet es nicht, das geht rein und wieder raus. Diejenigen aber, die es betrifft, fühlen sich geborgen.“ Auch Sorgen, Kinder zu „manipulieren“, wie es in einer Online-Petition heißt, weist Flindt zurück: „Ich gehe ja nicht zu einem Jungen und sage ihm, ‚Zieh dir mal ein Kleid an!' Wir reagieren nur auf das, was von den Kindern selbst kommt.“
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft warf der CDU vor, Kinderrechte zu ignorieren. Sie spreche den Kindern das Grundrecht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit ab, erklärte Doreen Siebernik, Vorsitzende der GEW Berlin. „Das zeigt deutlich, dass ihnen grundlegende Kenntnisse über die Entwicklung von Kindern in diesem Alter fehlen.“
Rot-Rot-Grün möchte Aufklärungsarbeit leisten
Die rot-rot-grüne Koalition überwies den Antrag am Donnerstag in die Ausschüsse – „dort kann die CDU noch mal darlegen, was genau gegen diese Druckschrift spricht. Wir werden dann gerne Aufklärungsarbeit leisten“, heißt es in der gemeinsamen Stellungnahme. Auch der Landeselternausschuss der Kindertagesstätten Berlin begrüßte die Broschüre, der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin, Träger vieler Kitas, setzte ebenfalls ein Signal und gab bekannt, 1000 Exemplare der Handreichung nachzudrucken.
Für Simone Schmidt hilft die Handreichung in erster Linie gegen eine mögliche Sprachlosigkeit. „Die Gefühle der Kinder sind da, aber sie haben nicht immer Worte dafür. Wir als Erzieherinnen helfen ihnen, Worte zu finden und ins Gespräch zu kommen.“ Das Wissen aus Fortbildungen rutscht leicht in den Hintergrund. Für Edeltraud Flindt ist die Handreichung deshalb ein „riesiger Schatz“.
Anne-Sophie Schmidt