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© Kitty Kleist-Heinrich, TSP

Eisbär Knut: Rätsel um Tod des Berliner Eisbären Knut gelöst

Knut wurde eine überschießende Immunreaktion zum Verhängnis, die das Gehirn des Eisbären angriff. Das Wissen könnte Zootieren helfen. Beim Menschen ist das Leiden heilbar.

Fast schien es, als sei eine bedeutende Persönlichkeit gestorben, als Knut am 19. März 2011 infolge eines epileptischen Anfalls in den Wassergraben fiel und dort ertrank. Sein Schicksal hatte von Anfang an nicht allein die Berliner gerührt, überlebte er doch nach dem Tod seines Zwillingsbruders im Brutkasten und musste von Zoo-Tierpfleger Thomas Dörflein mit der Flasche aufgezogen werden. Die leibliche Mutter Tosca hatte das Bärenbaby nicht angenommen. Millionen Fans nahmen Anteil. Nun haben Wissenschaftler herausgefunden, dass der berühmte Eisbär mit nur vier Jahren an einer Krankheit starb, die ihn posthum noch menschlicher erscheinen lässt: Er litt an einer Autoimmunerkrankung des Gehirns, die damit erstmals im Tierreich diagnostiziert wurde.

Die Hirnentzündung, die den Bären torkeln ließ und epileptische Anfälle verursachte, war mithin nicht Folge der Ansteckung mit einem Krankheitserreger, der von außen in sein Gehege drang. Der Grund waren vielmehr überschießende Immunreaktionen im Körper des Tiers. Dort wurden Antikörper-Moleküle gebildet, die bestimmte Andockstellen an der Oberfläche von Nervenzellen blockierten, die diese sonst für die Übertragung von Informationen benutzen. Die fehlgeleiteten Antikörper lösten offenbar die Entzündungsreaktion aus. Knuts medizinische Diagnose lautet also korrekt: Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis.

Das berichtet ein Team aus Wissenschaftlern des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), der Charité und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in einer Studie, die am Donnerstagnachmittag im Fachblatt „Scientific Reports“ veröffentlicht wurde. „Für uns ist es sehr befriedigend, dass wir nun wissen, woran genau Knut gestorben ist und dass die Spekulationen ein Ende haben“, sagt der Tiermediziner Andreas Ochs vom Zoologischen Garten Berlin.

Den Verdacht hatte zuerst der an der Charité und DZNE tätige Neurologe Harald Prüß, als er rund zwei Jahre nach Knuts Tod aus der Zeitung von den Autopsie-Ergebnissen erfuhr und sich in die wissenschaftliche Publikation dazu vertiefte. „Enzephalitis ohne Erregernachweis“ stand im Autopsiebericht. Bei der Obduktion des Tieres hatten die Veterinäre des IZW also Entzündungen in Gehirn und Rückenmark erkannt. Sie konnten aber kein Virus und kein Bakterium finden. Prüß fielen Parallelen zum Krankheitsgeschehen bei einigen seiner Patienten auf. Er kontaktierte Alex Greenwood, den Leiter der Abteilung für Wildkrankheiten am IZW. „Glücklicherweise war nach Knuts Tod Gehirnwasser aufbewahrt worden, weil schon klar war, dass viele Fragen aufkommen würden“, berichtet der Neurologe im Gespräch mit dem Tagesspiegel. In der Flüssigkeit ließen sich die Antikörper nachweisen.

Die Autoimmunkrankheit wurde erst 2007 beim Menschen entdeckt

Dass die Antikörper überhaupt eine Enzephalitis verursachen können, entdeckten Forscher der Universität von Pennsylvania in Philadelphia erst im Jahr 2007. Zuvor hatten Ärzte automatisch unbekannte Krankheitserreger im Verdacht, wenn sie bei einem Patienten keine Keime fanden. „Inzwischen wissen wir, dass die meisten dieser Patienten an einer Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis erkrankt sind“, sagt Prüß. Der Verlauf dieser Hirnentzündungen ist jeweils ähnlich. Zunächst sind die Betroffenen abgeschlagen und haben leichtes Fieber. Dann stellen sich Denkstörungen, unerklärliche Veränderungen des Verhaltens, Angst, Wahnzustände und Halluzinationen ein – fast wie zu Beginn einer Schizophrenie. Meist ist deshalb auch die Psychiatrie die erste Anlaufstelle für Patienten mit dieser Autoimmunkrankheit. Einer Phase reduzierter Aktivität und des Verstummens folgen schließlich oft epileptische Anfälle und Blutdruckkrisen. Diese können, wenn überhaupt, nur auf einer neurologischen Intensivstation behandelt werden. Überdurchschnittlich oft sind junge Frauen betroffen, bei denen in einem der Eierstöcke ein gutartiger, aus Keimzellen gebildeter Tumor wächst, ein „Teratom“. Gegen dessen Zellen richtet sich die körpereigene Abwehr, die schließlich über das Ziel hinausschießt und körpereigene Nervenzellen schädigt.

Im Laufe der Zeit fanden Forscher weitere Antikörper, die solche und ähnliche Symptome auslösen können. „Die rasante Entdeckung weiterer spezifischer Antikörper wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen“, vermutet Prüß. Er geht davon aus, dass sie bei etwa einem Drittel der Hirnentzündungen im Spiel sind. Inzwischen wurden sie auch bei Patienten nachgewiesen, die unter einer der wesentlich häufigeren chronischen, langsam voranschreitenden neurologischen Krankheiten leiden. Im Einzelfall auch an Demenzen. Eine entscheidende Rolle spielen sie wohl nur bei rund einer von hundert Demenzerkrankungen. Sie wurden aber auch bei einigen Patienten gefunden, die an Alzheimer leiden. Vor allem bei ungewöhnlichen Verläufen könnte sich ein Bluttest lohnen, meint Prüß.

Knut hat sich über seinen Tod hinaus verdient gemacht

Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis ist inzwischen nicht nur mit Standardtests nachweisbar, die Neurologen haben heute mehrere Waffen gegen das Leiden: Eine Blutwäsche spült die Antikörper aus dem Blut. Kortison dämpft das Immunsystem und lindert die Entzündung. Schließlich Immuntherapien, die die körpereigene Abwehr in gesündere Bahnen lenken. Darunter ist der monoklonale Antikörper Rituximab, ein Mittel gegen Krebs und schweres Rheuma. Er verhindert, dass sich Nachschub des krank machenden Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörpers bildet. Etwa 75 Prozent der so Behandelten erholt sich dank dieses Therapiekonzepts ohne gravierende Schäden, nur vier Prozent sterben. „Je schneller die Behandlung beginnt, desto effektiver ist der Schutz“, sagt Prüß.

Und Knut? Der Pressetermin der Forscher am Donnerstag im Schloss Friedrichsfelde – mitten im Tierpark – war schließlich auch eine letzte Hommage an den früh verstorbenen Kult-Eisbären, der inzwischen als Dermaplastik präpariert im Naturkundemuseum steht. Knuts Vermächtnis bestehe in den neuen Informationen, sagt der IZW-Forscher Greenwood. Zwar sei unbekannt, was die Autoimmunreaktion auslöst. „Doch wenn es gelingt, die Therapien zu übertragen, könnten wir bei Zootieren möglicherweise Hirnentzündungen erfolgreich behandeln und damit Todesfälle vermeiden.“ Zoo-Veterinär Ochs berichtet, es gebe auch bei anderen Wildtieren immer wieder Hirnentzündungen. „Wenn eine Behandlung nötig ist, scheuen wir bei Zootieren keine Kosten.“ Auch wenn das Anlegen von Infusionen bei gefährlichen Tieren eine logistische Herausforderung darstellen dürfte.

Knuts Popularität hat die Aufmerksamkeit auf eine wichtige und behandelbare Ursache von Hirnentzündungen gelenkt. Er hat sich über seinen Tod hinaus verdient gemacht – für Mensch und Tier.

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