Uni-Dozentin Natasha A. Kelly: „Rassismus betrifft alle Fächer“
Wer darf an der Hochschule sprechen und worüber? Die Dozentin Natasha A. Kelly über blinde Flecken in der Wissenschaft.
Frau Kelly, in der öffentlichen Wahrnehmung und ihrem eigenen Selbstverständnis nach sind deutsche Universitäten Orte der Weltoffenheit und der Vielfalt. Sie aber kritisieren Rassismus an Universitäten. Woran machen Sie das fest?
Rassismus ist inhaltlich, in Form von „epistemischer Gewalt“, also der strukturellen Verdrängung von Schwarzem Wissen und Schwarzen Wissenschaftler_innen, spürbar (Anm. d. Red.: Natasha A. Kelly legt Wert auf die Großschreibung von „Schwarz“, um damit den Widerstand gegen Fremdbezeichnungen zu markieren, die ‚Hautfarben‘ rassistisch klassifizieren und kodieren. Um geschlechtergerecht zu sprechen, verwendet sie den Unterstrich): Wessen Texte lesen wir? Warum fließt Schwarzes Wissen nicht in den Mainstream der deutschen Gesellschaft und in die Curricula der Universitäten und Schulen, wenngleich es seit vielen Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum (re-)produziert wird? Dann geht es auch um die Fragen: Wer darf sprechen und zu welchen Themen? Wer gilt als Individuum, wer darf für sich, aus seiner eigenen Meinung heraus sprechen und wer wird als Stimme eines Kollektivs gesehen? Universitäten an sich sind eurozentrisch ausgelegt, und das ist nur eine mögliche Weltperspektive. Die Multiperspektivität fehlt an deutschen Universitäten. Nicht zuletzt geht es aber auch um die Frage: Wer findet Jobs an den Universitäten – vor allem langfristig?
Kann schon von Rassismus gesprochen werden, wenn sich das deutsche Curriculum traditionell vor allem mit europäischen Vordenkern befasst?
Ja, denn die meisten europäischen Vordenker_innen waren rassistisch. Hegel zum Beispiel propagierte, dass Afrikaner_innen nur in der Versklavung frei sein könnten. Kant führte biologische Rassenkategorien in Deutschland ein. Diese und andere Fakten werden häufig außen vor gelassen. Vor allem aber haben wir in Europa das Denken von diesen weißen Männern gelernt, ebenso wie das Sehen und Handeln. Und wenn das nicht hinterfragt wird, transportieren wir Rassismus immerzu fort.
Als Sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität waren, wandten sich häufig Studierende an Sie, die mit Rassismus oder Diskriminierung konfrontiert waren. Worum ging es dabei?
Da ist zum einen die bereits erwähnte epistemische Gewalt, die sich etwa in den Texten verbirgt. Wenn etwa das N-Wort vorkommt und das nicht weiter thematisiert oder reflektiert wird, wird rassistische Gewalt ausgeübt. Viele Studierende haben zudem Nachteile bei der Bewertung befürchtet, wenn sie sich dagegen aussprachen. Auch im Universitätsalltag wurde Rassismus beklagt. Ein Beispiel: Mit einem Porträt wurde bis vor wenigen Jahren der Nobelpreisträger Adolf Butenandt geehrt, der nicht nur bekennender Nationalsozialist war, sondern auch Verbindungen zum Kolonialismus hatte. In diesem Fall handelt es sich um eine Form von visueller Gewalt.
Welche Erfahrungen haben Sie als Dozentin mit Rassismus gemacht?
Auch Studierende können rassistisch sein. Es kam beispielsweise bei einem Gastvortrag an der Universität Greifswald einmal vor, dass ich vor Beginn der Lehrveranstaltung im Seminarraum war, die Technik vorbereitete und Studierende einander fragten: „Wo bleibt die Dozentin?“ Für viele ist es noch immer unvorstellbar, dass eine Schwarze Frau diese Position besetzen kann. Sie sind mit kolonialisierten, stereotypen Vorstellungen groß geworden.
"Rassismus ist wie Krebs. Er frisst uns von innen auf."
Gibt es nicht durch die Postcolonial Studies ein wachsendes Bewusstsein für Rassismus?
Wenn direkt zu Rassismus geforscht wird, etwa in den Postcolonial oder Gender Studies, ist das Bewusstsein da. Das Problem ist allerdings, dass Disziplinen wie die Postcolonial Studies, Black Studies oder Black European Studies nicht in Deutschland institutionalisiert sind. Es wird ohne diese Fächer langfristig nicht gehen. Und es braucht eine Anerkennung, dass diese Forschung genauso wichtig ist wie, sagen wir, die Krebsforschung. Denn Rassismus ist wie Krebs. Es frisst uns von innen auf.
Was ist mit den anderen Disziplinen?
Rassismus betrifft alle Disziplinen und alle Fächer und es gibt große Wissenslücken diesbezüglich. Ich habe mich vor Kurzem mit einem Physiker über das Thema unterhalten. Er glaubte, dass Rassismus die Physik nicht betreffe. Doch er irrt sich. Wenn wir etwa die Technik der Fotografie anschauen: Die Belichtungstechnologie wurde für weiße Haut entwickelt. Das ist eine Normsetzung, wie es sie in zahlreichen anderen Bereichen auch gibt, ohne dass das vielen Menschen bewusst wäre.
Wie hat er reagiert?
Er war sprachlos. Ich glaube, er hatte gar nicht darüber nachgedacht, wie strukturell Rassismus ist.
Warum wird Rassismus kaum als hochschulpolitisches Problem diskutiert?
Das hat viel damit zu tun, wie in der deutschen Gesellschaft mit Rassismus, aber auch mit der eigenen Kolonialvergangenheit umgegangen wird. Das Aufkommen des Rassismus ist ja eng mit dem Kolonialismus verbunden. In Deutschland mangelt es an Bereitschaft, sich mit dem Kolonialismus und seinen Kontinuitäten auseinanderzusetzen.
Ist das nicht etwas sehr pauschalisiert ausgedrückt? Woran machen Sie das fest?
In Museen und in der Kunst wird das Thema seit Kurzem angegangen. Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigte beispielsweise eine Ausstellung über den deutschen Kolonialismus. Allerdings wurde es versäumt, die Kritik von Schwarzen Wissenschaftler_innen angemessen umzusetzen. So habe ich in einer Installation in der Ausstellung rassistische Sprache kritisiert und gezeigt, warum bestimmte Begriffe nicht verwendet werden sollten. Das wurde in der Gesamtkonzeption jedoch nicht weiter reflektiert. An anderen Stellen wurden rassistische Begriffe dennoch kommentarlos verwendet.
Wie kann Rassismus an Universitäten thematisiert werden?
Ich glaube, dass dieser Prozess auch durch die betroffenen Wissenschaftler_innen und Studierenden in Gang gesetzt wurde. Auf Konferenzen wird Rassismus an der Universität thematisiert. Die „Critical Whiteness“, also die Kritische Weißseinsforschung, findet zunehmend Eingang in den Wissenschaftsdiskurs und hinterfragt die selbstverständliche und unbewusste Norm des Weißseins. Aber es gibt noch sehr viel zu tun.
Können Ansätze dieses Forschungsfeldes für die Universität und den Wissenschaftsbetrieb Impulse liefern?
Ja, denn letztlich ist Rassismus kein Problem von Schwarzen, sondern er wurde zu einem Problem von Schwarzen gemacht, und zwar durch Weiße. Dennoch wird Rassismus immer erst dann relevant, wenn Schwarze oder Menschen of Color anwesend sind. Die Kritische Weißseinsforschung liefert gute Ansatzpunkte gerade für weiße Menschen, um sich mit ihrer eigenen Position und Verantwortung im Kontext von Rassismus kritisch auseinanderzusetzen.
"Es braucht Antidiskriminierungsstellen und -beauftragte auf Präsidialebene"
Was können Universitäten konkret tun?
Ein häufiges Problem der Studierenden, die zu mir kamen, war, dass sie von Professor_innen diskriminiert wurden. Es braucht Antidiskriminierungsstellen und -beauftragte auf Präsidialebene und nicht nur Beratungsstellen auf studentischer Ebene, damit Diskriminierung und Rassismus auf allen Ebenen geahndet werden. Für die Humboldt-Universität habe ich dazu ein entsprechendes Strategiepapier ausgearbeitet.
Was müsste noch geschehen?
Zum einen sollten Expert_innen eingestellt werden, die im deutschen Kontext zu Rassismus forschen und auch Erfahrungswissen mitbringen. Wenn es um das Thema Rassismus geht, werden häufig Expert_innen aus dem Ausland geholt, als ob Rassismus in Deutschland nicht existiere und keine eigene Geschichte aufweise. Wir als Schwarze deutsche Wissenschaftler_innen werden kaum als Expert_innen für irgendetwas angesehen, geschweige denn für deutsche Geschichte oder die Geschichte des Rassismus. Wichtig ist aber auch, dass unsere Forschungsergebnisse in die Strukturen von Gesellschaft, Wissenschaft und Politik zurückfließen. Ins Curriculum der Lehramtsstudiengänge sollte beispielsweise ein Pflichtfach zum Thema Diskriminierung an Schulen aufgenommen werden.
Gemeinsam mit zwei Kolleginnen aus London und Paris haben Sie das Netzwerk „Black European Academic Network“ (BEAN) gegründet. Was wollen Sie damit erreichen?
Struktureller Rassismus macht nicht an nationalen Grenzen halt, er ist ein europäisches Phänomen, das in den verschiedenen europäischen Ländern verschiedene Spezifika aufweist. Doch auf der strukturellen Ebene, das heißt, wie Rassismus etwa im akademischen Betrieb wirkt, gibt es viele Gemeinsamkeiten. So die Tatsache, dass viele Schwarze Akademiker_innen in die Arbeitslosigkeit oder Freiberuflichkeit gedrängt werden. Unser Anliegen ist es, die Kräfte zu bündeln und ein Netzwerk für Schwarze europäische Akademiker_innen zu schaffen. Konkret geht es darum eine Schwarze Wissensplattform bereitzustellen und unser Wissen der Öffentlichkeit, Lehrer_innen und anderen Wissenschaftler_innen, aber auch den eigenen Communities zugänglich zu machen.
Hannah Seidl