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Zwangseinweisen?  Derzeit werden gerne viele jener, die gegen Corona-Maßnahmen protestieren, von anderen, die auch nicht unbedingt viel Ahnung haben, für dringend therapiebedürftig erklärt. Doch die Sache ist ganz so einfach nicht.
© imago images/Jens Schicke

Das Virus, Verschwörungsängste – und die Seele: „Psychiater sind nicht für die Unangepassten da, sondern für die psychisch Kranken“

Der Charité-Psychiater Andreas Heinz über Belastungen in der Krise, die Neigung zu einfachen Lösungen – und den Unterschied zwischen dumm und krank.

Herr Professor Heinz, kann man sagen, wie sich die psychische Gesundheit der Menschen infolge der Corona-Krise verändert hat?

Es gibt keine bundesweiten Zahlen, die ausreichend verlässlich sind. Wir haben eine Umfrage per Fragebogen durchgeführt, der in vergleichbarer Form auch in Teilen Chinas zur Anwendung gekommen ist. Demnach waren die Deutschen weniger gestresst als die Menschen in China – aber solche Umfragen sind nicht unbedingt repräsentativ.
Wir haben außerdem eine systematische Übersicht zu früheren Studien über die Auswirkungen der Isolationsbedingungen auf die psychische Gesundheit erstellt.

Was war das Ergebnis?
Da kam sehr deutlich raus, dass insbesondere Angsterkrankungen, Depressionen und andere psychische Probleme bei sozialer Isolation zunehmen. Aber Vertreter von Betroffenenverbänden sagen auch, dass man Personen mit psychischen Belastungen nicht unterschätzen soll, sie haben oft viel Erfahrung, mit Krisen umzugehen. Manchen kommt die Solidarisierungswelle und auch das geschärfte Bewusstsein für Gefährdungen in der Allgemeinbevölkerung auch entgegen. Eine Organisation von Zwangserkrankten teilte mit, dass Mitglieder sich freuen, dass der Rest der Bevölkerung jetzt auch mal daran denkt, sich die Hände zu waschen. Es ist nicht so, dass alles nur problematisch ist. Aber insgesamt wird es statistisch gesehen leider für die Menschen eher eine psychische Belastung sein.

Aus Angst vor Ansteckung mit dem Virus blieben viele Patienten mit psychischen Erkrankungen den Notaufnahmen fern.
Aus Angst vor Ansteckung mit dem Virus blieben viele Patienten mit psychischen Erkrankungen den Notaufnahmen fern.
© imago/Steinach

Wie hat sich denn die Versorgungslage geändert?
In vielen Krankenhäusern sind eigentlich für Patienten mit psychischen Erkrankungen vorgesehene Betten in Betten für Covid-19-Behandlungen umgewandelt worden. Das war im Schnitt ungefähr ein Viertel. Auch bei uns. Die Ressourcen fehlen dann natürlich. Mein Eindruck aus Berlin war auch, dass in den ersten Wochen die Notfallaufnahmen auch im Bereich der psychischen Erkrankungen abgenommen haben, bei uns ungefähr um die Hälfte. Denn viele Patienten hatten Sorgen, sich anzustecken. Es gab dann wieder einen Anstieg, und derzeit ist es in dem Bereich, den wir gewohnt sind. Bei uns habe ich also gewissermaßen eine Wellenbewegung gesehen – aber ich kenne keine gute Statistik dazu.

Warum stiegen die Zahlen wieder?
Die Leute waren ja nicht auf einmal wieder gesund, sie haben es nur aufgeschoben. Bei neurologischen Krisen haben Kollegen berichtet, dass sogar Menschen mit Schlaganfall eher zu lange zu Hause geblieben sind, weil sie Angst hatten, sich anzustecken.

Ihr Charité-Kollege Michael Tsokos, ein Rechtsmediziner, hat gesagt, dass sich einige Patienten aus Angst vor der Ansteckung und aus Angst vor dem Tod das Leben genommen haben. Können Sie das bestätigen?
Das haben wir so nicht gesehen, muss ich sagen. Abgeleitet aus früheren Ereignissen ist aber wirklich zu befürchten, dass infolge sozialer Isolation und wirtschaftlicher Probleme Suizidraten zunehmen - das ist leider sehr gut belegt und sehr traurig.
Zum Beispiel gab es eine ganz deutliche Zunahme der Suizidraten in Griechenland während der Austeritätszeit, und auch in der Sowjetunion gab es deutliche Zunahmen mit dem Ende des Systems, als soziale Existenzen wegbrachen. Aber man muss vorsichtig sein: Suizidgründe sind immer sehr vielschichtig. Die meisten Suizide sind ein ganz komplexes Problem mit verschiedenen Ursachen. Gerade die jetzige Situation bringt es mit sich, dass wir auf Warnsignale bei unseren Nächsten achten sollten, um gegebenenfalls professionelle Hilfe zu vermitteln.

 Andreas Heinz ist Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité sowie Präsident der Fachgesellschaft für Psychiatrie- und Nervenheilkunde DGPPN.
Andreas Heinz ist Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité sowie Präsident der Fachgesellschaft für Psychiatrie- und Nervenheilkunde DGPPN.
© DGPPN

Werden durch die Krise psychische Krankheiten eine noch größere Herausforderung, als sie es ohnehin bereits waren?

Das kommt darauf an, wie es wirtschaftlich ausgeht: Durch Pleiten und Arbeitslosigkeit würden wir ein großes Problem mit psychischen Begleitfolgen bekommen. Ich mache mir auf der einen Seite Sorgen wegen einer zweiten Infektionswelle. Auf der anderen Seite denke ich, dass die Lockerungen richtig sind. Meine persönliche Einschätzung ist, dass viele Leute zunehmend irritiert werden und ihre sozialen Kontakte vermissen. Es kommt auch zu einer Zunahme unnötiger Telefon- und Videokonferenzen, wodurch die Freizeit immer knapper wird. Ich merke so eine Grundanspannung - vielleicht ist es aber auch nur Projektion.

Was sollte getan werden, um vorzubeugen?
Man kann ja gar nicht so viel tun, es ist eine Art Naturkatastrophe. Die Rettungsschirme sind wichtig, das ist richtig. Für die Versorgung psychisch Kranker haben wir ja ein gutes System. Jetzt ein anderes System aufzubauen, bringt glaube ich nichts. Es ist wichtig, dass man die Lage erhebt. In den bundesweiten Erhebungen ist zum Glück noch eine Frage zu den psychischen Vorerkrankungen hereingekommen. Wir haben einen Förderantrag eingereicht, um zu untersuchen, was über einen längeren Zeitverlauf bezüglich psychischer Belastung stattfindet.

Wie gut klappt die Forschung derzeit?
Ich habe gerade unseren Kontaktpersonen bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft mitgeteilt, dass ich es unerträglich finde, dass zum Beispiel Doktorandinnen und Doktoranden mit ihren befristeten Stellen in zwei, drei oder vier Jahren ihre Dissertation fertig machen müssen, ohne dass gesichert ist, dass die Unterbrechung der Forschungszeit erstattet wird. Dazu hatte ich als Präsident unserer Fachgesellschaft DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.) auch die Wissenschaftsministerin Anja Karliczek angeschrieben. Es gab aber keine klare Antwort, ob Forschungsprojekte um die zirka. drei Monate der Forschungsunterbrechung verlängert werden.

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Die Unterbrechung der Forschung in den letzten Monaten wegen der Pandemie haben wir uns ja alle nicht selbst ausgesucht. Daher sollte es selbstverständlich sein, dass die Doktoranden in der deshalb nötigen verlängerten Laufzeit finanziert werden. Es sind teils die klügsten Leute dieser Republik, die sich der Wissenschaft verschreiben. Wir müssen auch hier eine Existenzsicherheit geben und Verantwortung gegenüber den jungen Menschen übernehmen.

Machen Wissenschaftler denn genug auf gerade diese Probleme aufmerksam?
Wir wollen uns austauschen. Die jungen Leute haben gesagt, dass sie politisch aktiv werden wollen. Es herrscht aber große Ratlosigkeit.

Anderes Thema: Wie erklären Sie sich die Corona-Leugner und Quarantäne-Verweigerer?
In Teilen der Bevölkerung gibt es eine teilweise durchaus berechtigte Skepsis gegenüber der Art und Weise der Informationsweitergabe: Es gibt das Gefühl, dass eigene Besorgnisse nicht genug gesehen werden. Manche Medien vertreten eine bestimmte politische Agenda. Solche Grundgefühle und unterschiedliche Erfahrungen haben viele Menschen.

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Das ist, glaube ich, die Grundlage der Skepsis. Und darauf setzt sich jetzt eine für ganz viele Personen lebenserschütternde Krise. Das Problem ist, wenn man dann allzu einfache Lösungen aktiviert. Und da bin ich zum Teil überrascht, was mir lang bekannte Personen jetzt für eigentümliche Erklärungsmodelle nutzen. Jemand hat mir erzählt, dass es Licht- und Schattenwesen gebe, die nur wie Menschen aussehen, und hinter der ganzen Krise stecken. Das ist aber keine Person, die ich unter meinen Patienten hatte, sondern jemand, den ich seit 50 Jahren kenne.

Der Spiegel titelte „Fall für die Klapse“.
Das ist ganz falsch. Die Psychiatrie hat sehr darum gekämpft, dass Quarantäneverweigerer nicht in die Kliniken kommen, sondern wenn es im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes wirklich nötig ist, in ein ganz normales Krankenhaus. Die sächsische Regierung hatte dies kurzzeitig angeordnet, wahrscheinlich auch aus Nützlichkeitsgedanken: In Psychiatrien könne man ja wohl gut die Türen abschließen.

Viele Kliniken versuchen allerdings, mit offenen Türen zu arbeiten. In Berlin gab es einen Fall, wo eine Unterbringung einer psychisch gesunden Person in einer psychiatrischen Klinik von einer Amtsärztin geplant wurde, die keinen anderen Rat wusste - das ist aber vom Richter anders entschieden worden.

Das wäre das falsche Signal: Dann heißt es wieder, Psychiatrien seien für die Unangepassten da, statt für die psychisch Kranken. Genau gegen dieses Stigma macht sich die DGPPN zusammen mit Angehörigen- und Betroffenenverbänden seit vielen Jahrzehnten stark. Psychiater und Psychotherapeuten sind zuständig für Menschen mit psychischen Erkrankungen und nicht für Menschen mit eigentümlichen Überzeugungen. Das muss man, glaube ich, ganz stark betonen. Wir sind auch keine Strafanstalt zur Umerziehung von Querdenkern. Das ist eine alte Angst, die in der Bevölkerung steckt, und das wird dann im Guten wie im Bösen auf die Psychiatrie projiziert.

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Aber wie kommt es, dass manche Leute völlig abwegige Thesen verbreiten?
Ich glaube, alle Menschen neigen dazu, ihre Grundüberzeugung hartnäckig zu vertreten. Und wenn es ganz hartnäckig entgegen jedem Beweis behauptet wird, dann sagen wir, es ist wahnhaft. Wir sagen es aber normalerweise, wenn es isoliert auftritt, sich um die betroffene Person dreht und an sich schon eigentümliche Erfahrungen damit erklärt werden, wie zum Beispiel das Hören von Stimmen. Es hilft nichts, die Neigung von Menschen zu psychiatrisieren, sich in Krisen einfachen Erklärungsmodellen anzuschließen.
Vor 70 oder 80 Jahren sagten Menschen, es gebe einen deutschen Volkskörper und Schädlinge, die sich mit dem Namen Juden belegen lassen. Dann schaut man doch heute hin und denkt, dass das völlig wahnhaft und bösartig ist. Trotzdem hat damals ein großer Teil der Bevölkerung daran geglaubt und entsprechend gehandelt oder dem zumindest nicht aktiv widersprochen. Ich glaube, die Fähigkeit, entgegen anderslautenden Belegen eigentümliche Hypothesen zu übernehmen und zu vertreten, ist leider eine menschliche Grundfähigkeit. Es bringt nichts, Rassismus oder andere Ideologien psychiatrisch zu pathologisieren. Da sind teils auch Menschen mit psychischen Erkrankungen dabei. Aber was sie in ihre Gedankengebäude einbauen, kommt wiederum aus ihrer Umwelt. Psychische Erkrankungen sollte man nicht daran festmachen, dass jemand hartnäckig eine Überzeugung vertritt, die ein großer Teil der Welt nicht teilt.

Gibt es denn annähernd genug Studien hierzu?
Es gibt ein deutliches Forschungsproblem. Wir wissen aus interkulturellen Untersuchungen, dass Erklärungsmodelle unglaublich wichtig sind: Wie erklären sich die Leute die Welt und ihre Erkrankung? Das wird individuell gebildet, hat aber kulturelle Einflüsse. Die Gesellschaft und der soziale Status haben Einfluss. Das spielt eine riesige Rolle bei der Verarbeitung von allen gesundheitsbezogenen Informationen. Welche Rolle das bei der Pandemie spielt, ist aber nicht bekannt. Man müsste das dringend erforschen.

Das Gespräch führte Hinnerk Feldwisch-Drentrup.

Hinnerk Feldwisch-Drentrup

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