Türkische Akademiker rehabilitiert: Professoren werfen Gericht Terror-Unterstützung vor
Das Verfassungsgericht in Ankara hat hunderte Wissenschaftler rehabilitiert. Regierungstreue Professoren protestieren gegen dieses "Skandal"-Urteil.
Das gibt es nur in der Türkei: Akademiker, die ihre Kollegen hinter Gittern sehen wollen. Erst kürzlich hatte das Verfassungsgericht die Urteile gegen hunderte Akademiker aufgehoben, die öffentlich die Kurdenpolitik der Regierung kritisiert hatten. Doch jetzt melden sich mehr als tausend andere Professoren und Dozenten zu Wort, die dem obersten Gericht deshalb Terror-Unterstützung vorwerfen. Der Streit zeigt, dass die türkische Regierung bei ihrem Feldzug gegen Andersdenkende durchaus Verbündete in der Gesellschaft hat.
Als vor mehr als drei Jahren südostanatolische Städte bei Kämpfen zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Terrororganisation PKK schwer zerstört wurden, unterschrieben rund 1100 Universitätsmitarbeiter einen Appell mit dem Titel „Wir werden an diesem Verbrechen nicht teilhaben“. Später schlossen sich weitere dem Aufruf an; am Ende lag die Zahl der Unterzeichner bei 2000. Präsident Recep Tayyip Erdogan beschimpfte sie als Vaterlandsverräter, woraufhin viele von ihnen entlassen und als Terrorhelfer vor Gericht gestellt wurden.
Das Schicksal der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurde im In- und Ausland zum Beispiel für die Beschränkungen der Meinungsfreiheit im EU-Bewerberland Türkei: Die „Friedens-Akademiker“, wie sie genannt werden, hatten nicht etwa zur Gewalt aufgerufen, sondern lediglich Militäraktionen des Staates kritisiert.
Ein Schritt zur Stärkung der Meinungsfreiheit
Im Mai musste die Politikwissenschaftlerin Füsün Üstel als erste Unterzeichnerin ins Gefängnis; sie ist inzwischen wieder frei. Mehrere hundert weitere wurden wegen unter dem Vorwurf der „Terrorpropaganda“ angeklagt, mehr als 400 wurden nach Zählung von Amnesty International auf Lebenszeit von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Viele flohen ins Ausland.
Am vergangenen Freitag entschied das Verfassungsgericht in Ankara nun in einem Grundsatzbeschluss, die Urteile gegen die Akademiker hätten die demokratischen Freiheitsrechte der Angeklagten verletzt. Die Entscheidung des obersten Gerichts war ein Schritt zur Stärkung der Meinungsfreiheit in einem Land, in dem die Regierung seit Jahren mit der juristischen Keule des Terror-Vorwurfs gegen Kritiker vorgeht.
Doch die Entscheidung in Ankara gefällt nicht allen Kollegen der Betroffenen. Unter dem Titel „Das Verfassungsgericht darf den Terror nicht legalisieren“ wandten sich jetzt 1071 regierungstreue Akademiker gegen das Urteil der Verfassungsrichter. Die Entscheidung des obersten Gerichts zugunsten der „Friedens-Akademiker“ sei ein „Skandal“. Laut Medienberichten hatten die Rektoren von vier Universitäten ihr Lehrpersonal zur Teilnahme an der Protestaktion aufgerufen.
Nationalisten: Schutz des Staates steht über Grundrechten
Auf Twitter erhalten die regierungstreuen Akademiker von Gleichgesinnten viel Beifall. Seit Tagen laufen einige Politiker der Regierungspartei AKP, Vertreter der Nationalistenpartei MHP und die regierungstreue Presse gegen den Beschluss der Verfassungsrichter Sturm. Burhan Kuzu, ein Verfassungsrechtler und Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan, deutete an, die Befugnisse des Verfassungsgerichts könnten eingeschränkt werden.
Das Hauptargument der Nationalisten lautet, der Schutz des Staates vor angeblichen Angriffen müsse über den Grundrechten des Einzelnen stehen. Viele Urteile regierungstreuer Richter gegen Journalisten und andere Kritiker beruhen auf dieser Weltsicht. Einen Staat zu kritisieren, weil er Terror bekämpfe, werde nirgendwo auf der Welt als Meinungsfreiheit akzeptiert, heißt es im Text der 1071 Akademiker.
Haben wirklich 1071 Wissenschaftler unterschrieben?
Dem widersprach der AKP-Rechtspolitiker Mustafa Yeneroglu: Natürlich dürften in einer Demokratie die Methoden des staatlichen Kampfes gegen den Terror kritisiert werden, schrieb er auf Twitter. Es sei erschreckend, wenn dieses Recht in Frage gestellt werde, fügte er mit Blick auf die Erklärung der 1071 hinzu.
Die Zahl der Unterzeichner ist kein Zufall: Im Jahr 1071 besiegten die Seldschuken im ostanatolischen Manzikert das Heer der Byzantiner – die Schlacht gilt bei Nationalisten als Beginn der Eroberung Kleinasiens durch die Türken.
Allerdings gibt es schon kurz nach Veröffentlichung des 1071er-Appells große Zweifel, ob wirklich so viele Akademiker gegen ihre Kollegen auf die Barrikaden gehen. Der Istanbuler Literaturwissenschaftler Mehmet Serif Eskin und der Politologe Ercan Eyüboglu beschwerten sich, ihre Namen seien ohne ihr Wissen unter die Erklärung gesetzt worden.