zum Hauptinhalt
"Kesselschlacht". Die Forscher vom Münchner Institut für Zeitgeschichte wollen Hitlers Propaganda entblößen, indem sie seine Lügen sowie die Wurzeln seiner absurden Thesen dokumentieren. - Das Bild zeigt eine umgestaltete Seite von "Mein Kampf" aus einem Projekt der französischen Künstlerin und Fotografin Ellia (2005).
© Daniel Karmann/p-a/dpa

Urheberrecht von Hetzschrift erlischt: Forscher wollen Mythos von Hitlers „Mein Kampf“ zerstören

Bald ist die Hassschrift von Adolf Hitler in Deutschland frei verkäuflich. Eine kritische Edition will sie entmythologisieren.

Siebzig Jahre lang ließ sich, was im Dritten Reich als „Buch der Deutschen“ und bald danach als deren größte literarische Schande galt, offiziell im Giftschrank verbergen. Ende dieses Jahres nun erlischt das Urheberrecht der bayerischen Staatsregierung am schriftlichen Symbol des schlimmsten Zivilisationsbruchs der Geschichte. „Mein Kampf“, Adolf Hitlers programmatische Hetzschrift, Kondensat der menschenverachtenden NS-Ideologie, dürfte ab dem 1. Januar 2016 in der Bundesrepublik Deutschland frei verkäuflich sein.

Nach dem Krieg vom Alliierten Kontrollrat ermächtigt, haben alle bayerischen Finanzminister bis heute als Zensoren gewirkt und sich als Wächter über die Büchse der Pandora verstanden. Nun aber lässt sich eine Veröffentlichung wohl nicht mehr verhindern, die vorhandenen juristischen Instrumente haben wenig Aussicht auf Erfolg. In Antiquariaten, im Ausland und im Internet lässt sich das Buch ohnehin legal und in allen Weltsprachen erwerben. Doch eine deutsche Neuauflage, womöglich kommerziell vertrieben, ist nicht weniger als ein Politikum, die anstehende Veröffentlichung wird in den Medien zuweilen unter der Chiffre „Countdown zu einem Tabubruch“ verhandelt.

Stünde Hitler plötzlich auf der Bestsellerliste!

Aber geht von „Mein Kampf“ heute überhaupt noch eine Gefahr aus, hat das Buch nach wie vor ein propagandistisches Potenzial, oder rechtfertigt sich ein Publikationsverbot heute wenn überhaupt noch über die Tatsache, dass es schlicht beschämend und ärgerlich wäre, stünde der Autor Adolf Hitler plötzlich auf der „Spiegel“-Bestsellerliste?

„Wir kommen um eine Auseinandersetzung mit ,Mein Kampf’ nicht herum, das Buch ist nun mal in der Welt“, meint Christian Hartman vom Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ), der seit ein paar Jahren zusammen mit seinen Kollegen an einer historisch-kritischen Ausgabe von Hitlers Hetzschrift arbeitet. Mit der kommentierten Edition bezwecke man eine Art kritischen Gegenentwurf. Ein wissenschaftliches Standardwerk wolle man schaffen, um der etwaigen Schwemme unkommentierter – wirtschaftlich oder politisch motivierter – Ausgaben zuvorzukommen. Dabei ist Hartmann sich der Verantwortung, die er mit dem Mammut-Projekt einer „Mein-Kampf“-Edition eingegangen ist, durchaus bewusst, auch hält er ein Publikationsverbot des unkommentierten Textes nach wie vor für sinnvoll. „,Mein Kampf’ ist nicht nur ein Buch“, sagt der Historiker, „,Mein Kampf’ ist nicht nur eine Quelle. ,Mein Kampf’ ist immer auch ein Symbol. Und wir Deutschen tun gut daran, mit diesem Symbol äußerst gewissenhaft und vorsichtig umzugehen.“

Minutiös setzen sich die Forscher mit Hitlers Thesen auseinander

Dieser Maxime ist das IfZ dann auch gefolgt. Ein umfangreicher Kommentar – über 3700 Anmerkungen – begleitet den Text, dem Leser wird eine minutiöse Auseinandersetzung mit Hitlers Thesen geboten. Ferner liefern die Historiker eine Genealogie seiner Ideen, legen die häufig dürftigen Quellen des Autors offen und verorten dessen Aussagen im zeitgeschichtlichen Kontext der 20er Jahre. So verweisen sie zum Beispiel auf das ideologische Milieu, dem Hitler sein Konzept von Volksgemeinschaft und Rassenantisemitismus entlehnte. Auch werden Hitlers Weltanschauung und seine Großmannssucht vor dem Hintergrund des kollektiven Scheiterns der Deutschen im Ersten Weltkrieg und des individuellen Scheiterns in seinem Leben besprochen.

"Es ist das klassische Modell der Kesselschlacht"

„Was wir betreiben“, sagt Hartmann, „ist ein Zermalmungsprozess. Der Text wird von unseren Kommentaren regelrecht umzingelt. Es ist das klassische Modell der Kesselschlacht. Hitler ist in der Mitte und wir drum herum.“

Die landläufige Annahme von der demagogischen Brillanz des Braunauer Biedermannes und dem verführerischen Potenzial seines in der Landsberger Festungshaft entstandenen Machwerks, wurde ob des jahrzehntelangen Verbots wohl noch geschürt. Dagegen betont Christian Hartmann die offenkundige Dürftigkeit von Hitlers Argumentation sowie die ästhetische und formale Jämmerlichkeit des genretechnisch undefinierbaren 800-Seiten-Pamphlets. Insofern geht es den Autoren neben der rein wissenschaftlichen Aufarbeitung einer der zentralen Quellen des Nationalsozialismus auch um die polit-pädagogische Dekonstruktion eines ungerechtfertigten Mythos.

Hitler verzahnt vereinzelte Fakten mit Lügen und Halbwahrheiten

Was die hitlersche Hetze bei allem Dilettantismus dennoch wirkmächtig macht(e), ist ein simples rhetorisches Prinzip, dessen sich auch moderne Verschwörungstheorien bedienen. Nämlich die Verzahnung von offenkundigen Lügen mit Halbwahrheiten und vereinzelten Fakten. Dieses auf den ersten Blick undurchsichtige Amalgam aufzubrechen, haben die Historiker um Christian Hartmann sich zur Aufgabe gemacht. So werde Hitler nicht bloß reflexartig widersprochen. Es würden vielmehr auch jene Passagen kommentiert, in denen er eine Tatsache benennt, die ihn in Verbindung mit von Hass und Ressentiment durchtränkten Behauptungen dann zu falschen Schlüssen führt.

So hat auch die Hitler-Expertin Barbara Zehnpfennig vor Kurzem darauf hingewiesen, Hitler mache hinter allen Phänomenen, die ihm in der Moderne zuwider seien, die eine Ursache des Bösen aus, nämlich das Wirken des Judentums; das aber sei nur durch selektive Anschauung und verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung möglich. Wobei sich Letztere zumeist auf die absurdesten Zeugnisse als Quellen absoluter Wahrheit kapriziert – auch hierin ist Hitler dem modernen Verschwörungstheoretiker nicht unähnlich. Um etwa „den Juden“ als Brandstifter hinter dem Konflikt der christlichen Konfessionen zu eruieren, stützt sich Hitler auf einen antisemitischen Roman aus dem 19. Jahrhundert und die Aussagen eines frei erfundenen Rabbiners. „Ob Houston Steward Chamberlain, Theodor Fritsch oder irgendein trüber Romanautor: Hitler benennt seine Quellen so gut wie nie“, sagt Hartmann. „Allein die Tatsache, dass man die Urheber bestimmter Lügen namhaft machen kann, ist schon ein großer Gewinn.“ Auch werde Hitlers vulgäre Rezeption von philosophischen Konzepten – wie Nietzsches „Sklavenaufstand in der Moral“ – und seine von Unkenntnis geprägte Lesart des Marxismus bloßgelegt.

"Mein Kampf" ist Hitlers Fahrplan - vieles setzt er später um

Doch gibt es abseits von Hass und Ressentiment, von der wirren Schmähung des Judentums als causa prima des zivilisatorischen Niedergangs so etwas wie ein ernst zu nehmendes Denken in „Mein Kampf“? Was ist überhaupt der Inhalt dieser schwer erträglichen 800 Seiten und wie konkret werden Hitlers Ideologeme in ein innen- und außenpolitisches Programm übersetzt?

„Es ist bemerkenswert wie viel von dem, was später passiert, in ‚Mein Kampf' schon vorweggenommen ist“, sagt Hartmann. Man kann das Buch in weiten Teilen als einen Entwurf, einen Fahrplan dessen verstehen, was Hitler später umsetzen will.“ So sei „Mein Kampf“ zum einen Autobiografie und historische Skizze der nationalsozialistischen Bewegung, zum anderen ideologisch-programmatische Anleitung für die Volksgemeinschaft. Die innenpolitische Aufgabe einer Schaffung derselben durch soziale, eugenische und bevölkerungspolitische Maßnahmen werde hier genauso vorweggenommen, wie der Russlandfeldzug der Wehrmacht zwecks Eroberung von „Lebensraum“ im Osten.

Die These vom ungelesenen Buch ist unhaltbar

Auch die Schoah, meint Hartmann, werde bereits 1925 vorweggenommen. Zwar sei die Judenvernichtung nicht im Einzelnen ausbuchstabiert, offenkundig aber werde, dass Hitlers Antisemitismus „von Beginn an eliminatorisch war“. Auf den Umstand, dass die Option zur Judenvernichtung in Hitlers Denken bereits lange vor der Wannseekonferenz präsent war, hat auch der Historiker Michael Grüttner in seinem jüngst erschienenen Werk „Brandstifter und Biedermänner“ hingewiesen. So wird die Edition des IfZ auch in die Zukunft ausgreifen und deutlich machen, welche Ideen und Projekte des Diktators in den Jahren seiner Herrschaft realisiert worden sind.

Da die These vom ungelesenen Buch, die sich in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges als Schutzbehauptung hartnäckig hielt, seit einiger Zeit widerlegt ist, macht die Edition so auch noch mal darauf aufmerksam, dass niemand, der in jener Zeit bei Verstand war, behaupten kann, er sei im Hinblick auf den Holocaust im Unwissen gewesen. Schon für die daraus folgende Betonung der Tatsache eines konsequenten Mitläufertums muss man den Historikern um Christian Hartmann dankbar sein.

Die bayerische Staatsregierung bekam kalte Füße

Zwar gibt es auch einigen Widerstand gegen das Projekt einer kommentierten Ausgabe. Von der bayerischen Staatsregierung zum Beispiel, die das IfZ anfangs großzügig unterstützte, dann aber kalte Füße bekam und eine radikale Wende vollzog. Zudem von einigen Opferverbänden aus Israel, die sich aus nachvollziehbaren Gründen vor einer „Mein-Kampf“-Veröffentlichung in Deutschland fürchten oder diese wenigstens aus symbolischen Gründen für anrüchig halten. Ansonsten erhält Christian Hartman allerdings viel Unterstützung für sein Projekt, zumal aus Israel, von vielen dortigen Historikerkollegen und der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.

Sicher gibt es viele Argumente dafür, „Mein Kampf“ auch weiter im Giftschrank zu belassen. Neben dem wohl eher gering zu schätzenden Ideologisierungsaspekt vor allem den Umstand, dass es mehr als geschmacklos ist, wenn deutsche Verlage mit dem Wort gewordenen Massenmord ihren Reibach machen.

So mag man über die Veröffentlichung in Deutschland geteilter Meinung sein: Auf alle Fälle ist eine historisch-kritische Edition, die „Mein Kampf“ entmythologisiert und damit zugleich pädagogische wie historiografische Arbeit leistet, allemal besser als kommentarlose Ausgaben. Denen wollen die Historiker mit allen Mitteln den Giftzahn ziehen. Die wissenschaftliche „Kesselschlacht“, die Hartmann und Kollegen führen, bringt es jedenfalls mit sich, dass man den 1. Januar 2016 nicht länger fürchten muss.

Zur Startseite