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Die Kinderlähmung ist noch nicht besiegt. Die WHO macht sich sorgen um die Impfquoten in Deutschland.
© Daniel Karmann/dpa

Tag der Kinderlähmung: Polio-Gefahr in Deutschland nicht gebannt

Trotz weltweit gesunkener Zahlen machen Experten sich Sorgen. Die Impfquoten sind grenzwertig.

Der heutige 24. Oktober wäre der 104. Geburtstag eines Mannes, der die Welt ziemlich verändert hat. Jonas Salk, 1995 verstorben, entwickelte den meistverwendeten Impfstoff gegen Kinderlähmung (Polio). Ihm zu Ehren hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Datum zum Welt-Polio-Tag erklärt. Grund zum Feiern gibt es nur eingeschränkt. Denn trotz weltweit gesunkener Fallzahlen halten Experten die Gefahr neuer Polio-Infektionen in Deutschland nicht für gebannt. Und das 2013 von der WHO konkret formulierte Ziel, die Krankheit bis 2018 komplett auszurotten, wurde nicht erreicht.

Risiko erneuter Erkrankungen auch in Deutschland

„Das Risiko einer Wiedereinschleppung ist vorhanden“, sagte Kathrin Keeren vom Robert Koch-Institut in Berlin (RKI). Gründe dafür sieht die Leiterin der Geschäftsstelle der Nationalen Kommission für die Polioeradikation in sinkenden Impfquoten bei Kindern und in der Migration aus Ländern mit Polio-Vorkommen. „Wir müssen darauf achten, dass wir die Impfzahlen so hoch wie möglich halten können“, betonte Keeren.

Die Impfquote bei der Schuleingangsuntersuchung lag 2016 nach den aktuellsten RKI-Daten bei 93,9 Prozent. „Wir sehen das schon mit Sorge“, sagte Keeren, „weiter nach unten sollte es wirklich nicht gehen, wir sollten eher wieder besser werden.“ Zuvor habe der Wert jahrelang bei etwa 95 Prozent gelegen. Diese Schwelle erachtet die WHO für nötig, damit die Bevölkerung gegen ein Wiedereinschleppen des Virus gewappnet ist. Im Bundesland mit der niedrigsten Quote, Baden-Württemberg, sind aber zum Beispiel nur noch neun von zehn Kindern geimpft (90,6 Prozent).

Weniger Skepsis als bei Masernimpfung

Hat Polio ihren Schrecken verloren? Hermann Josef Kahl, Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, sieht keine bröckelnde Impfbereitschaft: „Die Impfung ist eine Selbstverständlichkeit heutzutage.“ Nur in Einzelfällen müsse man Eltern die unheilbaren Folgen der Krankheit wie bleibende Lähmungen in Erinnerung rufen. Generell sei die Einstellung zur Polio-Impfung aber „ganz anders als bei Masern“.

Die WHO warnt indes: Solange nur ein einzelnes Kind infiziert sei, bestehe weltweit Ansteckungsgefahr. Bislang gab es 2018 laut Global Polio Eradication Initiative 19 Neuinfektionen bis Mitte Oktober, im gleichen Vorjahreszeitraum waren es nur 11 gewesen. Am stärksten betroffen ist Afghanistan mit 15 Fällen – mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum 2017. Pakistan hingegen scheint auf gutem Weg: Nach mehr als 300 Neuinfektionen 2014 waren es bisher in diesem Jahr nur vier. Dort gibt es großangelegte Aktionen, bei denen binnen kurzer Zeit Millionen von Kindern geimpft werden.

Polio-Virus (äußere Schale), Aufnahme mit Kryo-Elektronenmikroskop.
Polio-Virus (äußere Schale), Aufnahme mit Kryo-Elektronenmikroskop.
© M. Bahar, A. Kotecha, C. Porta, E. Fry & D. Stuart Division of Structural Biology, University of Oxford

Symptomfreie Überträger

Die Zahlen klingen insgesamt niedrig. Doch „bei Polio haben wir die Problematik, dass nur sehr wenig Fälle klinisch relevant sind, das heißt, auf 200 Infizierte kommt in etwa nur ein Erkrankter“, erläutert Kathrin Keeren vom Robert Koch-Institut. Deshalb gelte schon die Entdeckung eines Falles als Ausbruch, weil man davon ausgehen müsse, dass es bis zu 200 weitere Infizierte gibt. Diese scheiden das ansteckende Virus aus.

Am RKI laufen pro Jahr 2000 bis 3000 Untersuchungen, um das Auftreten neuer Fälle hierzulande auszuschließen. Die Proben stammen von Patienten mit Verdacht auf virale Gehirn- oder Hirnhautentzündung sowie von Menschen mit akuten schlaffen Lähmungen. Diese Krankheiten können durch sogenannte Enteroviren verursacht sein, zu denen auch Polioviren zählen. Kinderkliniken und neurologische Kliniken können entsprechende Proben kostenlos im Labornetzwerk für Enterovirus-Diagnostik untersuchen lassen. „In den vergangenen Jahren war in Deutschland kein Poliovirus nachweisbar“, bilanziert Keeren. Das gilt auch für Flüchtlingskinder. Eine in Deutschland erworbene Ansteckung mit Wildpolioviren wurde zuletzt 1990 erfasst, 1992 waren letztmalig importierte Fälle hierzulande bekannt geworden.

Das Virus lebt und vermehrt sich im Magen-Darm-Trakt und kann unter anderem über den Stuhl weiterverbreitet werden. Polio trifft hauptsächlich Kinder im Alter von bis zu fünf Jahren.

rif/dpa

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