Insektensterben: Neonicotinoide im Honigtau töten nützliche Insekten
Neonicotinoide sind in der Landwirtschaft so üblich wie umstritten. Jetzt haben Forscher entdeckt, dass sich die Substanzen auch über Honigtau verbreiten.
Insektenvernichtungsmittel werden auf Nutzpflanzen versprüht, um Fraßschädlinge abzuwehren. Ob auch nützliche Insekten Schaden nehmen, wenn sie mit den Giften etwa beim Bestäuben über Pollen und Nektar in Kontakt kommen, ist gut untersucht. Jetzt hat erstmals ein Forschungsteam beobachtet, wie sich die in der Landwirtschaft häufig verwendeten Neonicotinoide etwa auf Schwebfliegen oder Schlupfwespen auswirken, wenn sie in den "Honigtau" geraten - also das Sekret von Läusen und Zikaden, die den Zuckersaft aus den Siebröhren von Pflanzen saugen.
Ausscheidungen tausender Läusen gesammelt und verfüttert
Miguel Calvo-Agudo von der Universität Valencia in Spanien und Kollegen besprühte oder goss dafür Zitrusbäume mal mit reinem, mal mit Neonicotinoid-versetztem Wasser. Zwar ist bekannt, dass die Insektizide dieses Typs, etwa Thiamethoxam oder Imidachlorpid, auch Nutzinsekten schaden können, weshalb sie in der Europäischen Union inzwischen auf Gewächshäuser beschränkt sind. Wie es sich allerdings auswirkt, wenn sie in typischen Konzentrationen im Honigtau landen, ist bisher nie untersucht worden. Calvo-Agudos Team sammelte dafür - ein durchaus mühsames Unterfangen - die Ausscheidungen von Zitrusschmierläusen. Diese Insekten saugen den Zuckersaft aus den Siebröhren der Zitrusbäume und geben ihn als Honigtau großteils wieder von sich. Für viele Insekten, etwa Schwebfliegen, Wespen, Ameisen und Bienen ist dieser halbverdaute Zuckersaft eine wichtige Nahrungsquelle.
Den vom Hinterleib tausender Läuse aufgesammelten Honigtau verfütterten die Wissenschaftler dann an eine Schwebfliegenart (Sphaerophoria rueppellii) und eine Schlupfwespe (Anagyrus pseudococci) und beobachteten die Auswirkungen: Mehr als die Hälfte der Tiere starben binnen drei Tagen, wenn der Honigtau von den mit Neonicotinoiden behandelten Bäumen stammte, während im gleichen Zeitraum nur fünf bis 16 Prozent der Tiere starben, die unbelasteten Honigtau bekamen, fassen die Forscher ihre Studie im Fachblatt "PNAS" zusammen. Damit seien auch Insektenarten von Neonicotinoiden bedroht, die nicht mit Nektar oder Pollen in Kontakt kommen. Die Exposition über Honigtau müsse daher bei künftigen Risikobewertungen von Neonicotinoiden mit berücksichtigt werden.
Insektizide, die den biologischen Pflanzenschutz stören
Die Studie sei "außerordentlich wichtig", sagt Randolf Menzel, emeritierter Neurobiologe der Freien Universität Berlin, "weil damit ein neuer und sehr wichtiger Weg der Aufnahme von Insektiziden durch Nicht-Ziel-Insekten nachgewiesen wurde." Zwar sei dieser Weg immer wieder vermutet worden, "aber eine genaue Studie gab es dazu noch nicht.“ Da sehr viele Nicht-Ziel-Insekten Honigtau aufnehmen und sich die Neonicotinoide über Jahre in den Bäumen halten, hält es Menzel für "dringend geboten, die schädigende Wirkung von kontaminiertem Honigtau noch genauer zu studieren." So sollte nicht nur die Überlebensrate gemessen werden, sondern auch Auswirkungen auf das Verhalten, die Immunabwehr und die Fortpflanzung von Insektenarten, die sich von Honigtau ernähren.
Letztlich könnte solche Forschung auch dem Pflanzenschutz dienen. Denn parasitische Wespen gelten als "wichtigste Gegenspieler der Blattläuse", den ökonomisch bedeutendsten Schädlingen von Getreidepflanzen, sagt Teja Tscharntke von der Abteilung Agrarökologie der Georg-August-Universität Göttingen. Da sich diese Wespenarten großteils von Honigtau ernähren, "wird durch vergifteten Honigtau eine biologische Schädlingsbekämpfung hintertrieben." Tscharntke vermutet, dass die Auswirkungen kontaminierten Honigtaus "weit verbreitet" sind. Denn selbst wenn die Neonicotinoide nicht sofort tödlich sind, könnten die Lebensdauer verringern oder die Fähigkeit beeinträchtigen, Geschlechtspartner zu finden. „Das ganze Spektrum negativer Wirkungen jenseits der direkten Mortalität ist viel zu wenig untersucht und wird bei der Zulassung von Pestiziden nicht berücksichtigt, spielt aber für das Funktionieren von Ökosystemen und Nahrungsnetzen eine große Rolle“, sagt Tscharntke. Womöglich ist kontaminierter Honigtau auch Ursache für die Wirkung von Neonicotinoiden auf Honigbienen: „Honigbienen können viel Honigtau konsumieren, und Pestizide finden sich in der Mehrzahl der verkauften Honiggläser“, sagt Tscharntke. „Der beliebte Waldhonig basiert großenteils auf dem Zucker, den Honigbienen von Schildläusen und anderen saugenden Insekten im Wald gewonnen haben. Entsprechend sollte ein Insektizideinsatz im Wald auch zu Vergiftungen von Honigtau-konsumierenden Honigbienen führen.“
Für den Tierökologen Johannes Steidle vom Institut für Biologie der Universität Hohenheim ist die Studie ein "Meilenstein", unter anderem weil sie zeigt, wie Organismen von Neonicotinoiden getötet werden können, obwohl sie gar nicht Ziel der Behandlung sind. Räuberische und parasitisch lebende Insekten seien ökologisch besonders wichtig, weil sie die Feinde von Pflanzenfressern sind, sagt Steidle: "Was passiert, wenn diese Feinde fehlen, sieht man am Buchsbaumzünsler und der Kastanienminiermotte. Beide haben in Mitteleuropa kaum natürliche Feinde und entlauben regelmäßig ihre Fraßpflanzen." Ähnliches sei beim Wegfall der natürlichen Feinde auch für viele andere Pflanzenarten zu befürchten. "Neonicotinoide führen also in eine Zukunft, die nicht grün ist, sondern kahl.“ (mit SMC)