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Indische Mutter mit Baby
© R. Schmidt, AFP

Die Antibiotika-Krise, Teil 2: Multiresistente Bakterien töten zehntausende Babys

In Indien sterben jedes Jahr fast 60 000 Säuglinge an Infektionen mit multiresistenten Keimen. Daran ist nicht nur unzureichende Hygiene schuld. Es fehlen auch Schnelltests.

Wir haben keine Wahl, sagt Sunit Singhi, der Leiter der Pädiatrie einer großen Uniklinik in der nordindischen Stadt Chandigarh. Wenn Mütter ihre Säuglinge zu ihm und seinen Kollegen am Post-Graduierten-Institut für Medizinische Ausbildung und Forschung (PGIMER) bringen, hat irgendeine Infektion die Babys bereits derart geschwächt, dass die Ärzte auf der Intensivstation keine Zeit verlieren dürfen. „Wir müssen ihnen sofort Breitbandantibiotika geben. Das Leben jedes einzelnen Patienten ist kostbar.“

Singhi ist ein Veteran, der Präsident der Weltföderation der Gesellschaften für pädiatrische Intensivmedizin, arbeitet seit fast 40 Jahren als Arzt. Er könnte zufrieden auf sein Lebenswerk zurückblicken, wenn er im Juli in Rente geht. Stattdessen beklagt er einen Missstand: Selbst in einem angesehenen Krankenhaus wie dem PGIMER, in dem jeden Monat fast 1000 Kinder auf der Intensivstation und mehr als 10 000 ambulant betreut werden, können die Ärzte nicht auf einen Schnelltest zurückgreifen, um die Ursache einer Infektion zu finden. Sie können nicht vermeiden, schwerkranken Neugeborenen unnötig und ungezielt Medikamente zu geben. Während sie darum kämpfen, die Kindersterblichkeit in Indien zu senken, tragen sie gleichzeitig zu einer anderen Gefahr bei: Es entstehen immer mehr multirestistente Keime, denen Antibiotika nichts anhaben können.

Indien ist das Zentrum eines unheilvollen Mahlstroms, der mit den Neugeborenen zuerst die Schwächsten erfasst. Weder Toiletten noch eine sichere Abwasserentsorgung sind selbstverständlich, sodass krankmachende Keime ungehindert ins Trinkwasser und in Nahrungsmittel gelangen. Viele Frauen gebären ihre Kinder unter unhygienischen Bedingungen. Um die Folgen abzumildern, geben sogar ungelernte Hilfshebammen vorsichtshalber Antibiotika aus. Diese Form der Prävention hat Folgen. Multiresistente Mikroben, die früher vor allem als Krankenhauskeime bekannt waren, sind inzwischen überall in Indien verbreitet. Sie werden sowohl vom Krankenhaus in die Gemeinde als auch von der Gemeinde ins Krankenhaus getragen. Säuglinge kommen unter anderem über ihre Mutter mit diesen Keimen in Kontakt.

Ein Schnelltest hilft, die richtige Therapie zu finden

Bei Kindern, die erst einen Tag alt sind, schaffen es vor allem Klebsiellen, in die Blutbahn zu gelangen. Das berichten Neonatologen, die am Uniklinikum des Jawaharlal-Instituts in der südindischen Stadt Puducherry das Schicksal von 400 Babys mit Sepsis verfolgten. Die Ärzte unterteilten die kleinen Patienten nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen. Bei der einen überprüften sie in der Petrischale, welche Bakterien sich im Blut der Babys vermehrten – ein Prozess, der zwei bis drei Tage dauern kann. Bei der anderen Gruppe nutzten sie für die Diagnose ein Gerät, das von dem Start-Up-Unternehmen Xcyton in Bangalore entwickelt wurde. Die Multiplex-PCR-Maschine analysiert das in der jeweiligen Blutprobe enthaltene Mikroben-Erbgut und kann so innerhalb weniger Stunden ermitteln, welches Bakterium, Virus oder Pilz die Infektion verursacht hat. Während die Blutkulturen nur bei jedem fünften Baby eine genaue Diagnose ermöglichten und 33 der so getesteten Kinder starben, lieferte die schnellere molekularbiologische Analyse bei 72 Prozent die schuldige Mikrobe. Das Wissen half bei der Therapie: In dieser Gruppe starben nur sechs Babys.

„Wir reichen die Ergebnisse gerade bei Fachjournalen ein“, sagt BV Ravikumar, Arzt und Gründer von Xcyton. Doch den Forschern schlägt Skepsis entgegen. Die Gutachter fragen sie, woher ein Neugeborenes nach nur einem Tag eine Sepsis mit Klebsiellen haben soll. Klebsiella pneumoniae ist ein gefürchteter Auslöser von Krankenhausausbrüchen, denn gegen das Bakterium helfen aufgrund seiner zusätzlichen Zellhülle ohnehin wenige Antibiotika, seine multiresistenten Varianten sind kaum behandelbar. Erreger wie Streptokokken der Gruppe B dagegen machten die Babys nicht krank – obwohl bekannt ist, dass diese Keime im Genitaltrakt der Frau vorkommen können und bei der Geburt übertragen werden. „Wir kennen den Grund nicht“, sagt Ravikumar. „Das wurde hier nie untersucht.“

Der Kreislauf der Mikroben und ihrer Resistenzen rückte erst ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als internationale Experten mit dem Finger auf Indien zeigten. Superbakterien, die hier entstehen, könnten sich rund um den Globus verteilen, warnte zum Beispiel Timothy Walsh von der Universität Cardiff im Jahr 2010. Er berichtete im Fachblatt „Lancet“ von Patienten, die mit eigenwilligen Infektionen in britische Krankenhäuser kamen. Alle hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie waren zuvor in Indien gewesen und die Keime, die ihnen Probleme bereiteten, konnten ein Enzym bilden, das Reserveantibiotika aus der Klasse der Carbapeneme unwirksam macht. Walsh nannte das für die Resistenz verantwortliche Gen NDM-1 (New-Delhi Metallo-beta-Laktamase 1).

Die indische Regierung reagierte abwertend auf die Warnung

Um die Herkunft des Resistenzgens zu bestätigen, sammelte er ein Jahr später in Indien Wasserproben und wurde fündig. Keime mit diesem Gen kamen in zwei von 50 Trinkwasserproben und in 51 von 171 Proben öffentlicher Brauchwasserstellen vor. Die indische Regierung reagierte darauf reflexhaft, beinahe abwertend. Doch kurz darauf nahm ein Netzwerk seine Arbeit auf, das seitdem für das Nationale Zentrum für Seuchenkontrolle in Delhi die Entwicklung von Antibiotika-Resistenzen überwacht.

Wie nötig das ist, zeigt eine Studie im Fachblatt „Lancet“. Gerade in Schwellenländern sei der Antibiotika-Verbrauch in den letzten zehn Jahren rapide gestiegen, in Indien um 62 Prozent. Jeder kann sie kaufen, ein Rezept ist nicht nötig. Die Ärmsten, die sich keinen Arzt leisten können, holen sich in der Apotheke ein paar Tabletten und therapieren sich selbst. Wenn sich der Trend fortsetzt, könnten im Jahr 2050 allein auf dem Subkontinent zwei Millionen Menschen pro Jahr aufgrund von Infektionen sterben, gegen die Antibiotika nichts ausrichten können, errechnete im Dezember 2014 der britische Ökonom Jim O’Neil. Schon heute sterben in Indien 58 000 Säuglinge pro Jahr an solchen Infektionen, berichtete die „New York Times“ und berief sich auf eine noch nicht publizierte Studie.

Falsche Dosis, falsche Kombinationen

„Wir wissen ungefähr, wie groß das Problem ist“, sagt VM Katoch, der ehemalige Generaldirektor des Indischen Rates für medizinische Forschung. „Doch was in den Kliniken passiert und welche Auswirkungen das hat, wissen wir nicht.“ Nach der Aufregung um die NDM-1-Superkeime bildete der Forschungsrat daher sein eigenes Netzwerk zu Antibiotika-Resistenzen. Es verbindet klinische Zentren in verschiedenen Regionen des Landes. Die Experten dokumentieren unter anderem, wo Patienten welche Antibiotika bekommen. „Ärzte verschreiben oft die falsche Dosis oder falsche Kombinationen“, sagt Katoch. Zusammen mit den Überwachungsdaten des Nationalen Seuchenzentrums sollten sich in zwei oder drei Jahren die Puzzlesteine zu einem realistischen Bild fügen.

Eine Rezeptpflicht für Antibiotika würde Millionen Menschenleben kosten

Sein Ziel ist es, für die Bekämpfung der am weitesten verbreiteten Mikroben landesweit gültige Standards zu etablieren. „Das wird ein harter und langer Kampf“, gibt Katoch zu. Aber es sei nicht hoffnungslos. Indien habe schließlich auch mit einer einheitlichen Therapie innerhalb von 25 Jahren die Lepra um 98 Prozent zurückgedrängt – ohne dass die Bakterien unempfindlich gegen die Medikamente wurden.

Die nationale Strategie zur Eindämmung resistenter Keime wird allerdings noch überarbeitet. Denn die Expertengruppe, die von der Vorgänger-Regierung beauftragt wurde, ging von der „idealen Situation“ aus, Antibiotika nur gegen Rezept abzugeben. Aber die medizinische Infrastruktur ist nach wie vor schlecht, viele Kranke sehen nie einen Arzt. „Die Rezeptpflicht würde Millionen Menschenleben kosten“, sagt Katoch.

Während die Antibiotika-Krise eskaliert, fehlt ein wichtiger Aspekt in der indischen Debatte: Eine schnelle, bezahlbare und leicht handhabbare Diagnostik könnte Ärzten zeigen, gegen welche Mikrobe sie antreten und eine gezieltere Therapie ermöglichen. In der Humanmedizin könnten 50 Prozent der Antibiotika ohne negative Auswirkungen für die Patienten eingespart werden, zeigte der britische Mikrobiologe Matthew Dryden in einer wegweisenden Studie.

Lungenentzündungen werden meist durch Viren oder Pilze verursacht

Ein Beispiel ist die Behandlung der Lungenentzündung. Jahr für Jahr erkranken etwa 4,5 Millionen Babys in Indien daran, kein anderes Leiden tötet mehr Kinder unter zwei Jahren. Fast immer wird die Infektion mit Antibiotika bekämpft. Meist vergebens, zeigt eine Studie, die Sunit Singhi und seine Kollegen gemeinsam mit dem Karolinska-Institut in Stockholm organisierten. Mithilfe des molekularbiologischen Diagnostiksystems von Xcyton analysierten sie die Proben von 1000 schwer an Lungenentzündung erkrankten Kindern, mehr als jemals zuvor. Noch läuft die Auswertung der Daten, doch ein Trend zeichnet sich bereits ab: Die meisten werden von Viren oder Pilzen verursacht, Antibiotika können diesen Kindern nicht helfen. Auch der Pneumokokken-Impfstoff, über den Indien seit etlichen Jahren diskutiert wird, hätte sie nicht geschützt.

„Wir brauchen in der Diagnostik einen technologischen Sprung nach vorn“, sagt Mrinal Sircar, der Leiter der Pulmologie und Intensivmedizin am Fortis-Klinikum in Noida, einer Satellitenstadt der Metropole Delhi. „So wie bei der Telefonie. Wir haben Festnetzverbindungen weitgehend ausgelassen und sind gleich zu Mobiltelefonen übergegangen. Wenn nun jeder Hausarzt in fünf Minuten herausfinden könnte, warum sein Patient Fieber hat, würde er nicht mehr unnötig zu Antibiotika greifen.“ Im Moment haben 80 Prozent der indischen Kliniken nicht einmal ein mikrobiologisches Labor, um mühsam Bakterienkulturen anzulegen.

Wenn Entwicklungs- und Schwellenländer die Ära der Mikrobiologie überspringen könnten, würde das einen echten Unterschied machen, sagt Mark Perkins, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für innovative neue Diagnostik (FIND) in Genf. Doch um in abgelegenen Regionen erfolgreich zu sein, müsse die Anwendung molekularbiologischer Verfahren so einfach sein wie ein Schwangerschaftstest. Trotzdem sollten sie gleichzeitig vor Resistenzen warnen. Der Weg dahin sei ungleich steiniger als bei der Einführung von Mobiltelefonen.

Ärzte sehen sich als "Götter in Weiß"

Die richtige Technologie zu finden und die Kosten massiv zu senken, sind nicht die einzigen Hürden. Manche Ärzte befürchten, dass die molekularbiologische Tests auch jene bakterielle Infektionen anzeigen, die das Immunsystem ihrer Patienten allein bewältigt hätte. So würde der Antibiotika-Verbrauch entgegen der guten Absicht steigen. Sircar widerspricht, in einer kleinen Studie mit 80 Patienten habe sein Team nichts derartiges beobachtet. „Ich bin überzeugt, dass selbst auf den Intensivstationen der Antibiotika-Verbrauch sinken wird“, sagt er.

Ein anderes Problem ist, dass Ärzte um ihren Status fürchten. Nicht die Angst vor einem Rechtsstreit verleitet sie dazu, zu viele Antibiotika zu verschreiben. Sie werden als Götter gesehen und brauchen deshalb für jedes gesundheitliche Problem sofort eine einfache Lösung. Den Schein, dass der Arzt immer helfen kann und alles weiß, würden molekularbiologische Tests zumindest ankratzen. So muss Xcyton-Gründer Ravikumar feststellen, dass Ärzte seine Geräte nicht einmal kostenlos und bei einer begrenzten Anzahl von Patienten ausprobieren wollen.

Singhi dagegen würde sich die Testverfahren in jeder Klinik wünschen. Millionenfach. „Aber woher soll das Geld kommen und ausgebildete Techniker, die die Geräte bedienen?“, fragt er. Trotzdem hofft er, dass die Kindersterblichkeit weiterhin sinken wird. „Daran arbeiten wir sehr hart.“

Übersetzung: Jana Schlütter

Seema Singh

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