Krankenhausinfektionen: Ein Rest Risiko
Bremen, Leipzig, Berlin: Immer wieder geraten Kliniken wegen Krankenhauskeimen in die Schlagzeilen. Aber absolute Sicherheit gibt es nicht, sagt der Arzt Alexander Uhrig. Besuch auf einer Intensivstation.
Die Tür zu Zimmer zwei ist geschlossen, dahinter ringt ein junger Mann um sein Leben. Zwei Jahre ist es her, dass er neue Lungenflügel bekommen hat. Nun drohen sie, ihren Dienst zu versagen. Nur wer unbedingt muss, geht zu ihm hinein. Bevor sie den Vorraum betreten, säubern Ärzte und Pfleger der Intensivstation 144i der Berliner Charité ihre Schuhe auf einer Desinfektionsmatte. In der Schleuse desinfizieren sie ihre Hände, ziehen Einmalkittel und Plastikhandschuhe an, schließlich noch Mundschutz, Haube und Schuhüberzieher. Auf dem Weg nach draußen dasselbe in umgekehrter Reihenfolge.
Die Hygieneroutine soll die anderen Patienten der Station schützen. Denn der 31-Jährige trägt in seinen Atemwegen einen gefährlichen Keim, der nicht aus dem Zimmer entkommen darf: eine multiresistente Variante des Bakteriums Acinetobacter baumannii. „Wir wussten das schon, bevor der Patient zu uns verlegt wurde und haben ihn sofort isoliert“, sagt Oberarzt Alexander Uhrig. Nur ein einziges Antibiotikum kann den Erreger in Schach halten: Colistin. Es wurde 50 Jahre kaum verwendet, weil es Nieren und Nerven schädigt.
Acinetobacter baumannii ist neu unter den Krankenhauskeimen, vor zehn Jahren wurde er erstmals in Feldlazaretten im Irak und Iran beobachtet. Nun kommt der hartnäckige Keim in Europa an. Monatelang kann er an Türklinken, medizinischen Geräten oder Nachttischen überleben. Und er ist nicht allein: Staphylococcus aureus, Klebsiella pneumoniae oder Pseudomonas aerguinosa heißen andere Bakterien, die immer wieder zu Ausbrüchen in Kliniken führen. Dann gibt es wieder Schlagzeilen in den Zeitungen, und es werden Schuldige gesucht: ob in Bremen, Leipzig oder zuletzt in Berlin. Franz Daschner, Experte für Krankenhaushygiene, ärgert sich über die „Hygienehysterie“ der deutschen Presse. Jede Krankenhausinfektion werde skandalisiert, kritisierte er vor wenigen Wochen bei einer Rede in Berlin. „Nur 30 Prozent aller Krankenhausinfektionen sind verhütbar, der Rest ist schicksalhaft“, sagt Daschner.
„Es sollte nicht um Schuld gehen, sondern darum, die Ursachen aufzuklären“, sagt auch Uhrig. Er weiß, dass die nächsten Schlagzeilen mit ein wenig Pech seiner Station gelten könnten. Denn die 144i mit ihren 18 Betten ist keine normale Intensivstation. Zum einen hat sie sich auf schwere Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung, Blutvergiftung oder Tuberkulose spezialisiert. 70 bis 80 Prozent der Patienten, die hierherkommen, bringen einen Krankenhauskeim mit, viel mehr als anderswo. Außerdem lernen hier schwerkranke Menschen, die wochenlang beatmet wurden, wieder ohne maschinelle Beatmung zurechtzukommen. Bis sie wieder allein Luft holen können, vergehen oft Monate. Und mit jeder Woche steigt das Risiko einer ungewollten Infektion. „Erfahrungsgemäß tritt bei so schwerkranken Menschen alle 14 Tage ein Problem auf", sagt Norbert Suttorp, Direktor der Klinik für Infektiologie und Pneumologie.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient zu Schaden komme, könne man senken, sagt Uhrig. 100-prozentige Sicherheit gebe es aber nicht. Selbst kleine Ungeschicke ermöglichen es Mikroben, von Bett zu Bett zu wandern und sich auf der Haut des nächsten Patienten anzusiedeln. „Die Erwartungen an die Medizin sind enorm. Gleichzeitig fordert die Politik von uns, eine schwarze Null zu schreiben. Besser und billiger. Wie soll das gehen?“
Am liebsten würde Uhrig den Lungenkranken in Zimmer zwei nur von bestimmten Ärzten und Pflegekräften versorgen lassen: „Aber das gibt die Personalsituation nicht her.“ Der Kostendruck im Krankenhaus schaffe Rahmenbedingungen, unter denen Mitarbeiter an ihre Grenzen stießen: Weil enge Dreibettzimmer auf einer Intensivstation nicht dem internationalen Standard entsprechen, weil Personal fehlt und die Arbeitsdichte steigt, weil selbst Kittel und Handschuhe möglichst preiswert sein sollen.
Dass ein Bakterium weitergegeben wird, führt nicht immer zu Problemen. In und auf jedem menschlichen Körper gibt es zehnmal mehr Mikroben als Zellen. Bei jedem Händedruck, bei jeder Umarmung werden einige von ihnen ausgetauscht. Solange sie bleiben, wo sie hingehören, sind sie keine Gefahr. Aber wer auf einer Intensivstation liegt, hängt an etlichen Schläuchen: An einem Harnkatheter etwa, um den Urin abzuleiten oder einem Venenkatheter, um Medikamente oder Elektrolyte effizient ins Blut zu bekommen. Die gleiche Schnellstraße können eigene und fremde Keime nehmen, im schlimmsten Fall lösen sie eine Blutvergiftung aus. Je kränker der Patient ist, je länger er Katheter braucht und je mehr daran hantiert werden muss, desto größer ist das Risiko.
Infektionen können auch entstehen, weil ein Arzt Komplikationen wie Magenblutungen vermeiden will. Senkt man zum Beispiel den Säuregehalt des Magensaftes, können sich dort die falschen Keime ansiedeln. Wenn sie über Mund und Rachen in die Lungen gelangen, verursachen sie eine Lungenentzündung.
In einem Zimmer der Station mischt sich ein Stöhnen in das gleichmäßige Piepen der Überwachungsgeräte. Die Physiotherapeutin ist da und will mit einem 175-Kilo-Mann das Aufstehen üben. Zu Hause, bevor seine Nieren versagten, konnte er das allein. Aber jetzt ist die Matratze zu weich, die Schmerzen zu groß, der Bettgalgen hängt nicht richtig. „Wie soll ich mich denn da hochziehen?“, fragt der Mann. „An mir, ich bin ihr Balken!“, antwortet der Pfleger. Zu dritt bugsieren sie ihn zentimeterweise Richtung Bettkante und schließlich in eine sitzende Position. „Noch mal zurück mit dem Fuß, das Bein nach vorne schieben! Gut machen Sie das!“ Aber mit dem Aufstehen wird es nichts, sie müssen aufgeben. Bevor der Mann wieder liegt, sind die Kittel über der blauen Kluft verrutscht, zwischen Handschuhen und Ärmeln klafft nackte Haut. Ein Mundschutz ging zu Boden. Auf der Haut des Patienten siedeln antibiotikaresistente Staphylokokken (MRSA).
Jeder Tag bringt solche Situationen: Am frühen Morgen bekam ein Mann plötzlich keine Luft mehr. „Da rennen wir hin, statt eine Minute lang rumzustehen, damit die Desinfektion einwirken kann“, sagt Susanne Fieberg, die auf der 144i die Pflege leitet. Eine verwirrte Patientin wollte nicht im Bett bleiben und kümmerte sich bei ihren Ausflügen weder um Schläuche noch Keime. Die drei Söhne einer Patientin gehen manchmal unbemerkt zu ihrer Mutter – am liebsten ohne den ganzen Mummenschanz mit Kittel, Handschuhen und Mundschutz.
„Manchen Patienten macht die Maskerade Angst“, sagt Uhrig. „Da kann man nur sagen: Anders geht es aber nicht!“ In Zwei- bis Dreibettzimmern sei die Hygiene ohnehin problematisch. Aber nicht jeder will sich für Monate in ein Einzelzimmer sperren lassen. „Eine Patientin drohte einmal, aus dem Fenster zu springen, wenn wir sie weiter isolieren“, sagt Petra Gastmeier, Leiterin des Instituts für Hygiene der Charité. „Es ist für Intensivstationen schwer, eine Balance zu finden.“ Die Charité stehe vergleichsweise gut da. Als sie 18 Monate lang Patienten auf fünf Intensivstationen auf Krankenhauskeime testete, seien nur 15 Prozent davon von Patient zu Patient übertragen worden. In anderen Industrieländern kam es mehr als doppelt so oft vor. „Das war vor zehn Jahren, inzwischen sind wir sicher besser“, sagt Gastmeier. Händehygiene werde heute viel ernster genommen.
Dass katheterassoziierte Infektionen, also Fälle, in denen Keime über die Schläuche in den Körper geraten, ganz vermieden werden können, wie es in den USA propagiert wird, hält sie für ein Märchen: „Diese Null-Toleranz-Politik führt nur zu geschönten Statistiken. Die Infektionen heißen dann halt anders.“
Allerdings gebe es einen direkten Zusammenhang zwischen solchen Infektionen und der Anzahl beatmeter Patienten, um die sich eine Krankenschwester kümmern muss. Das zumindest legen die Infektionsraten aus 182 deutschen Intensivstationen nahe, die Gastmeier und ihre Kollegen ausgewertet haben.
Zeit am Patientenbett fehlt auch auf der 144i. Der Fachkräftemangel in der Pflege führt dazu, dass die ohnehin dünne Personaldecke noch dünner wird. Weil eine Krankenschwester im Süden der Republik bis zu 500 Euro mehr verdient, wandern erfahrene Kräfte ab. „Deshalb habe ich ein so junges Team“, sagt Fieberg.
Doch auch die erfahrensten Kräfte machen hin und wieder Fehler. Als das amerikanische Institute of Medicine vor zwölf Jahren warnte, dass mehr Menschen durch Fehler im Krankenhaus sterben als durch Verkehrsunfälle, Brustkrebs oder Aids, überschrieb es den Bericht „Irren ist menschlich“. Seitdem wird diskutiert, wie Krankenhäuser sicherer werden können. Es wurden Checklisten und elektronische Patientenakten eingeführt, Farbkodierungen für Spritzen entworfen, computergestützte Verordnungssysteme für Medikamente getestet.
Vor allem aber wurde zu einer besseren Fehlerkultur aufgerufen (siehe Kasten). Jeden Monat findet auf der 144i eine Fehlerkonferenz statt, auf der offen über Missgeschicke gesprochen werden soll – egal, ob sie zu einer Katastrophe geführt haben oder noch einmal alles gut gegangen ist. Nach einem solchen Treffen stehen nun auch Fieberg und Uhrig auf dem Flur und diskutieren. Der Fall: Eine junge Schwester wollte Bescheid geben, dass es ihrem Patienten schlechter ging, dass er wieder an die maschinelle Beatmung sollte. Ein Arzt bügelte sie schroff ab. Die Schwester verstummte, zulasten des Patienten.
Uhrig schüttelt mit dem Kopf. „Natürlich geht das nicht“, sagt er. „Aber man muss auch Verständnis für den Arzt aufbringen.“ Während einer Schicht prasselten Tausende Informationen auf die Kollegen ein, Alarme, Bilder, Laborwerte, dringende Fragen. Manchmal brauche man einen Moment, um zu überdenken, ob man alles richtig mache. Um Checklisten abzuarbeiten. Um Angehörige in Ruhe zu informieren.
Zwei Wochen später steht die Tür zu Zimmer zwei wieder weit offen. Der lungenkranke Patient ist tot. Ein Organ nach dem nächsten hatte versagt, die Maschinen konnten das nicht mehr ausgleichen. Das Zimmer ist gereinigt worden, auch der resistente Keim Acinetobacter baumannii ist nun verschwunden. Die Station ist bereit für den nächsten Patienten, die nächste Herausforderung, die nächsten Keime.
Jana Schlütter
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