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Toller Hecht. Wladimir Putin, größter Selbstdarsteller seines Landes, auf Urlaub in Süd-Sibirien.
© REUTERS

Osteuropäisches Theater: Durchs wilde Autokratistan

In Osteuropa trifft das Theater auf völlig andere politische Realitäten als in Deutschland. Ein sommerlicher Exkurs zu Festivals in Ungarn, Russland und Georgien.

Trump, Putin, AfD: Die politisch bewegten (und tendenziell beunruhigenden) Zeiten schlagen sich längst auch im Theater nieder. Kaum eine deutsche Bühne, die keine Parabel über den aufhaltsamen Aufstieg eines rüpelnden Immobilienunternehmers und Reality-TV-Darstellers oder wahlweise eines Ex-KBG-Funktionärs auf dem Spielplan hätte.

Wie aber sieht es eigentlich in den Ländern selbst aus, deren autokratische Staatschefs in hiesigen Theatern wechselweise mit Furor, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung auseinandergenommen werden? Wie politisch ist das Theater etwa in Ungarn, wo Viktor Orbán und die rechtskonservative Fidesz-Partei systematisch Menschenrechte einschränken? Oder in Russland, wo am hauptstädtischen Bolschoi-Theater erst letzten Monat wieder eine geplante Premiere von Kirill Serebrennikow abgesagt wurde, ein biografisches Ballett über den (homosexuellen) Tänzer Rudolf Nurejew? Und womit setzt sich das Theater – apropos Russland – eigentlich in anderen postsowjetischen Ländern auseinander, zum Beispiel in Georgien?

Ökonomischer Druck als politische Einflussnahme

Station Nummer eins des Saisonrückblicks auf der Basis nationaler Festivals, die – ähnlich dem Berliner Theatertreffen – einmal pro Jahr das Bemerkenswerteste aus der landeseigenen Bühnenproduktion präsentieren: Ungarn. Theaterbesuche sind hier, im Jahr sieben unter Viktor Orbán, durchaus überraschend. Nämlich insofern, als man sich häufig vergegenwärtigen muss, nicht in der Berliner Schaubühne oder dem DT zu sitzen. In vielen Stücken entfaltet ein Mittelstandsmilieu mit Abstiegsängsten, die nahtlos Charlottenburg- oder Mitte-anschlussfähig sind, den Charme gehobener Familiendramatik: schauspielerisch virtuos, aber alles andere als dezidiert politisch.

Die ungarische Germanistin Mária Szilágy, die in Budapest ein unabhängiges Theaterfestival mit Schwerpunkt auf neuer Dramatik leitet, erklärt das Phänomen kulturpolitisch: Unternehmen könnten, vereinfacht gesagt, statt Körperschaftssteuer zu bezahlen selbst gewählte Kulturinstitutionen unterstützen, wobei die Höhe der Zuwendungen direkt an deren Einspielergebnis geknüpft ist. Je höher die Eigeneinnahmen, desto größer also die Zuschüsse. Da denkt man, so Szilágy, natürlich eher zweimal nach, ob man Experimente riskiert oder lieber dem mutmaßlichen Unterhaltungsbedürfnis des Publikums entgegenkommt, dessen politische Meinung man zudem nicht kennt: Ökonomischer Druck gehörte ja schon immer zu den wirkungsvollsten Mitteln politischer Einflussnahme.

Dem regimekritischen russischen Regisseur Kirill Serebrennikow wurde der Pass entzogen. Im Oktober soll er an der Staatsoper Stuttgart inszenieren.
Dem regimekritischen russischen Regisseur Kirill Serebrennikow wurde der Pass entzogen. Im Oktober soll er an der Staatsoper Stuttgart inszenieren.
© Bernd Weissbrod/dpa

Es ist sicher kein Zufall, dass die dezidiert politischen Gegenbeispiele zu diesem Trend von den auch international renommiertesten Regisseuren stammen. Béla Pintérs dokumentarisch inspirierte Posse „Der Champion“ um einen koksenden, homophoben, korrupten Provinzbürgermeister etwa brachte dem Budapester Katona József Theater massive Proteste rechter Politiker und eine veritable boulevardmediale Schlammschlacht, aber gleichzeitig ein stets ausverkauftes Haus ein. Und auch Árpád Schillings gesellschaftskritischer „Tag der Wut“ über eine oppositionelle Krankenschwester, die erst ihren Job verliert und dann, ähnlich wie Bertolt Brechts „Guter Mensch von Sezuan“, mit jeder humanen Tat tiefer in die gesellschaftliche Abwärtsspirale gerät, stößt sich unerschrocken von realen Tatsachen ab.

Das russische Theater ist besessen von der Vergangenheit

Fünfeinhalbtausend Kilometer Luftlinie nordöstlich, in Russland, steht Brecht übrigens ebenfalls hoch im Kurs – uneinholbar getoppt freilich von den Tschechows, Dostojewskis oder Tolstois, die dort in ähnlichem Variantenreichtum die Bühnen dominieren wie hier Goethe, Schiller oder Lessing: als Tanztheater, Dichter-Biopic, im Retro-Setting oder in zeitgenössischen Kunstlederleggings. Davon abgesehen, sticht allerdings ein vergleichsweise neuer Trend ins Auge: das Stalin-Konterfei, das gern von hintergründigen Videoleinwänden winkt. „Seit ungefähr fünf Jahren ist das russische Theater geradezu besessen von der Vergangenheit“, bestätigt die Theaterkritikerin Aljona Karas, die zu den Kuratorinnen des russischen Schwerpunkts beim jüngsten Moskauer Theaterfestival „Goldene Maske“ gehörte. Und findet die „Zombies, Geister und toten Körper“ auf den Bühnen einerseits begrüßenswert: Ohne Vergangenheitsaufarbeitung gibt es bekanntlich keine Gegenwartsdurchdringung. Andererseits hält Aljona Karas viele der Versuche für politisch zu naiv, zu wenig analytisch.

Tbilisier Marionettentheater neben Sarah Kane

Toller Hecht. Wladimir Putin, größter Selbstdarsteller seines Landes, auf Urlaub in Süd-Sibirien.
Toller Hecht. Wladimir Putin, größter Selbstdarsteller seines Landes, auf Urlaub in Süd-Sibirien.
© REUTERS

Dass es in luziden Ausnahmefällen durchaus passieren kann, dass eine Stalinismus-Auseinandersetzung direkt in der Gegenwart ankommt, zeigt „Die junge Garde“ des 37-jährigen Regisseurs Maxim Didenko, der übrigens – mit einer anderen, ebenfalls politischen Produktion titels „Tschapajew und Pustota“ – Ende August beim Kunstfest in Weimar zu erleben sein wird. „Die junge Garde“ durchleuchtet kritisch einen Klassiker der sowjetischen Propagandaliteratur über den Kampf einer jungen Partisanengruppe gegen die deutsche Wehrmacht 1942. Bei einer Vorstellung Anfang April, kurz nach den vom Oppositionellen Alexej Nawalny initiierten Anti-Korruptionsdemonstrationen in vielen russischen Städten, fragte Didenkos Hauptdarsteller spontan ins Publikum, was heroisches Handeln eigentlich heutzutage bedeute und ob die Demonstranten „Helden oder Opfer“ seien. Als klarer Demonstrationsbefürworter outete sich zwar niemand im lebhaften Saal-Wortgefecht, das eine Zwischenruferin schließlich mit der Forderung nach „Kunst statt Politik auf der Bühne“ beendete. Aber zumindest für den westeuropäischen Blick überraschend bleibt es allemal, dass derart brisante Tagesaktualitäten zumindest gelegentlich durchaus auf offener Bühne zur Sprache kommen.

Dramatische Vielfalt in Georgien

In Georgien hingegen, Stalins Geburtsland, ist der Ex-Diktator eher auf Flohmärkten und Weinflaschen zu finden als auf den Theaterbühnen. Was mitnichten heißt, dass das georgische Gegenwartstheater unpolitisch wäre; im Gegenteil. Ekaterina Mazmishvili, Theaterchefin und Leiterin eines internationalen Bühnenfestivals, hält es sogar für überdurchschnittlich interessant, weil sich hier seit der georgischen Unabhängigkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 „extrem viel verändert“ hat – und immer noch verändert. Tatsächlich spiegeln sich die (häufig im negativen Sinn) turbulenten postsozialistischen Jahre in entsprechender dramatischer Vielfalt; inhaltlich wie ästhetisch.

Bürgerkriege, Korruption, wirtschaftliche wie soziale Krisen und schließlich die Rosenrevolution Anfang der Nullerjahre: Jede neue Theatermacher-Generation rekurriert hier quasi auf ihre eigenen historischen Referenzpunkte. Weshalb hehre Tradition wie Reso Gabriadzes weltberühmtes, bereits seit Anfang der Achtziger bestehendes Tbilisier Marionettentheater gleichsam direkt neben einer westeuropäisch beeinflussten Ästhetik à la Sarah Kane steht, die etwa die Twentysomethings gerade für sich entdecken.

Unerschrockene junge Theatermacher

Natürlich hätten sich die politischen Ausdrucksformen verändert, sagt Mazmishvili. Während die lange Zeit prägende Generation der noch in Sowjetzeiten sozialisierten Theatermacher politisch widerständige Botschaften eher metaphorisch transportiert habe, thematisieren junge Regisseure wie Data Tavadze, den man auch in Deutschland kennt, die Situation vergleichsweise direkt, gern auch mit dokumentarischen Mitteln. Datas „Frauen von Troja“ etwa, die letztes Jahr in Braunschweig zu Recht den Hauptpreis des Festivals „Fast Forward“ für junge europäische Regie gewannen, verknüpfen „Die Troerinnen“ des Euripides mit realen Kriegserfahrungen georgischer Frauen. Und in Tavadzes neuer Produktion „Prometheus – 25 Jahre Unabhängigkeit“ ist es der zur Strafe an einen kaukasischen Felsen gekettete Licht- und Feuerbringer, auf dessen Folie verbriefte Krisenerfahrungen oder Regierungsskandale aufgerollt werden.

Die auf ihn folgende Theatergeneration übrigens, freut sich der gerade mal 28-jährige Tavadze, ginge noch unerschrockener ans Theater heran, auch was das ästhetische Erbe der Väter- und Großväter-Generation betrifft. Klingt nach besten Bühnen-Aussichten!

Christine Wahl

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