Umstrittene Therapie: Mit den eigenen Hirnwellen aus der Sucht befreien
Gegen ADHS, gegen Süchte und mehr - „Neurofeedback“ ist umstritten. Oft scheint es Patienten zu helfen. Doch wie es funktioniert, weiß nach wie vor niemand.
Siegfried Trattner konnte oft nicht einmal eine Minute stillsitzen. Es dauerte lange, bis der Endvierziger die Diagnose bekam: ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Er nahm Drogen, um ruhiger zu werden, schaffte keine Berufsausbildung. Dann, während seiner fünften Drogenbehandlung, schlug ein Therapeut ihm Neurofeedback zur Behandlung von ADHS vor. „Das war, als ob mir jemand erzählt hätte, es fliegt ein UFO vorbei“, erinnert sich Trattner, der heute als Künstler in Stuttgart arbeitet.
Er probierte es aus.
Wie beim Computerspiel: Die eigenen Hirnwellen am Bildschirm verändern
Bei Neurofeedback bekommen Patienten Visualisierungen ihrer eigenen Gehirnaktivität, etwa aus dem Elektroenzephalogramm (EEG), gezeigt. Sie sollen lernen, diese gezielt zu verändern. Ein einfaches Szenario: Ein Ball fliegt auf dem Bildschirm von links nach rechts. Der mit Elektroden am Kopf verkabelte Patient soll die Erregung des Gehirns dann entweder verstärken oder hemmen. Schafft er es, fliegt der Ball nach unten oder oben davon, als Zeichen des Erfolges. Es gibt auch kompliziertere Simulationen, etwa ein Tischtennisspiel oder eine Raumfahrt. Doch es sollte nicht vom eigentlichen Ziel ablenken. „Patienten beklagen sich selten, dass es zu langweilig ist“, sagt Ute Strehl, Psychologin an der Universität Tübingen.
Wie genau Menschen es schaffen, auf diese Weise aktiv in die eigene Hirnerregung einzugreifen, ist unklar. Doch sobald er gelernt ist, scheint der Prozess automatisch abzulaufen. Siegfried Trattner redete sich in Gedanken zu, wusste aber: „Man soll eigentlich so gut wie gar nichts machen, das Gehirn lernt es selbst.“
Warum Neurofeedback Symptome lindert oder kognitive Fähigkeiten verbessert, ist bisher nicht klar. Doch von positiven Erfahrungen wird aus verschiedensten Anwendungsgebieten berichtet, teils anekdotisch, aber auch in zahlreichen Studien. Neben ADHS wird es bei Epilepsie eingesetzt, in Kombination mit den üblichen Medikamenten. In manchen Fällen können die Patienten nach einer Weile die Dosis der Medikamente reduzieren. Dennoch bleibt es eine Zusatztherapie. Auch bei Schizophrenie, Depressionen, Drogensucht, Schlaganfall, Schmerz und Schlaflosigkeit scheint es zu helfen – zumindest bei Teilaspekten der Erkrankungen und mit unterschiedlichen Durchführungsweisen.
Wie motorisches Lernen - "Wenn ich es einmal kann, verlerne ich es nicht mehr"
Trotz vieler solcher Erfolgsmeldungen aus klinischen Studien und der Praxis wird Neurofeedback nach wie vor kontrovers debattiert. Ein Problem ist, dass nicht jeder lernen kann, es zu nutzen. Wissenschaftler arbeiten daran, den Lernprozess zu vereinfachen. Forscher aus China stellten sogar eine Methode vor, wie Neurofeedback ganz ohne das Zutun des Patienten funktionieren könnte.
Ein großer praktischer Vorteil ist, dass schon die derzeit genutzten Methoden offenbar allesamt ohne Auffrischungsübungen auskommen. Das legen zumindest Langzeitstudien nahe. Ute Strehl meint dazu: „Das ist motorisches Lernen: Wenn ich es einmal kann, verlerne ich es nicht mehr.“ Natürlich sei bei der Therapie wichtig, dass man den Transfer in den Alltag lernt. Manche Patienten seien sogar selbst überrascht, wenn sie feststellten, dass sie in kritischen Situationen unbewusst ihre erlernten Fähigkeiten immer noch anwenden.
Die wissenschaftlich wichtigste Frage lautet aber, ob Neurofeedback tatsächlich therapeutisch wirkt, oder ob es nur durch einen Placebo-Effekt funktioniert. Ute Strehl ist dieser Debatte müde, auch weil eine letztgültige Antwort auf diese Frage vielleicht unmöglich ist. Den Placebo-Effekt von den möglichen spezifischen Wirkungen abzuziehen, hält sie auch für falsch, denn nur die Kombination aus beidem bringe letzten Endes positive Resultate. Das sei nicht anders als bei praktisch jeder anderen Therapie. Sogenannte blinde oder doppelblinde Studien, bei denen Patient oder sogar Patient und behandelnder Arzt nicht wissen, ob ein richtiges Training stattfindet, sind schwer durchzuführen. Zumal der Patient aktiv daran arbeiten muss und Patient und Therapeut ein simuliertes Training möglicherweise erkennen würden.
Doch eine Gruppe aus chinesischen, deutschen und niederländischen Forschern fand eine Möglichkeit, echtes Neurofeedback mit vorgetäuschtem zu vergleichen: Die Experimentatoren zeigten der Kontrollgruppe die Aktivität einer Gehirnregion, die für etwas ganz anderes zuständig ist als jene Emotionen, um die es ging. Die Gruppe erhielt also nur ein nicht relevantes Feedback, ohne dies aber gleich zu erkennen. Das Experiment ergab, dass Neurofeedback auch Angstzustände verringern kann. Doch es stellte sich dann wieder die Frage: Wie kann man sicher sein, dass das „falsche“ Feedback nicht vielleicht andere, möglicherweise sogar negative Auswirkungen hat?
"Kein Ersatz für andere Therapien"
Ein Team um Pablo Riesco-Matías in Salamanca wollte schlicht wissen, wie hilfreich Neurofeedback tatsächlich ist. Die Forscher analysierten dazu Publikationen, in denen die Methode Kindern mit ADHS helfen sollte. „Neurofeedback ist kein Ersatz für andere Therapien“, fasst Riesco-Matías zusammen. Es helfe Kindern etwa nicht, alternative Verhalten zu lernen. „Aber als Zusatz zu einer Verhaltenstherapie kann Neurofeedback sehr interessant sein.“
Ein anderes Problem bei der wissenschaftlichen Beurteilung ist, dass praktisch jeder die Technik anbieten kann. So kommt es vor, dass ungeeignetes Equipment genutzt wird, oder die Patienten nicht die therapeutische Begleitung bekommen, die sie eigentlich benötigen. Krankenkassen zahlen das Neurofeedback dann, wenn es von einem lizenzierten Psychotherapeuten als Teil einer Verhaltenstherapie oder als ergotherapeutische Maßnahme verordnet wird.
Ute Strehl sagt, Therapeuten müssten mit den Patienten darüber sprechen, dass Neurofeedback bei vielen Erkrankungen noch eine nicht systematisch untersuchte Methode ist. „Erklärt man die Gründe, warum es helfen könnte, und will der Patient es dann probieren, spricht nichts dagegen, dass es ein verantwortungsbewusster, gut ausgebildeter Praktiker durchführt“, sagt Strehl.
Allerdings wird Neurofeedback nicht nur bei Erkrankungen, sondern auch zur Verbesserung der Konzentration gesunder Menschen angeboten, oder sogar im Leistungssport. „Es wird viel gemacht und wenig dazu publiziert“, meint Ute Strehl. Leistungssteigernde Methoden halte man gerne unter Verschluss, damit die Konkurrenz es nicht nachmache. Wie sinnvoll diese Anwendungen sind – sowohl beim Sport als auch bei kognitiven Leistungen – ist fraglich.
Immerhin keine Nebenwirkungen
Immerhin scheint es, außer leichten Kopfschmerzen oder Hautirritationen von den Elektroden, keine Nebenwirkungen zu geben. Das jedenfalls fanden Ute Strehl und ihre Kollegen in einer Studie heraus, die das Neurofeedback in mehreren Instituten untersuchte. Doch viele Fragen bleiben. Protokolle verbessern, Mechanismen klären, Anwendungsgebiete überprüfen, einheitliche Standards bestimmen – daran arbeiten Wissenschaftler derzeit. Riesco-Matías glaubt allerdings, dass man mit dem Versuch, Studien so aufzubauen wie Medikamententests, schnell an Grenzen stößt. Eher müsse man Zusammenhänge zwischen den Symptomen, den Lerneffekten nach dem Training und zusätzlichen neurophysiologischen Messungen untersuchen.
Seit Siegfried Trattner mit Neurofeedback begann, sagt er, habe es mehrere Situationen gegeben, in denen er früher rückfällig geworden wäre und Ruhe in den Drogen gesucht hätte. „Dank Neurofeedback hatte ich ein ganz anderes Gefühl für die Situation und blieb standhaft“, so Trattner. Bei seiner Drogentherapie waren die Therapeuten von seinem Erfolg so beeindruckt, dass sie die Methode nun ebenfalls in ihr Programm aufgenommen haben.
Trattner sagt, er verdanke der Methode eine bessere Lebensqualität und eine positivere Grundeinstellung. „Neurofeedback hat mir ein neues Leben gegeben, mich weg von den Drogen geführt. Seitdem ich das mache, komme ich meinen Zielen einfach näher. Schade, dass es nicht zwanzig Jahre früher passiert ist.“
Stefanie Uhrig