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Studentinnen der Mathematik an der TU Berlin
© Ulrich Dahl/Technische Universit

Geschlecht und Wissen: Mathe wird weiblich

Als „hart“ gilt das Fach, also als Männersache. Doch fast die Hälfte der Studierenden sind Frauen.

Die Gehirne von Frauen, heißt es seit über zweitausend Jahren, sind nicht für abstraktes Denken gemacht. Oder, in der Neuauflage: Weil die Steinzeitfrau am heimischen Höhlenfeuer keinen Dreisatz lösen musste, können Mädchen heute generell schlechter rechnen als Jungen. Stereotype, wonach es zur Natur der Frauen gehört, schwach in Mathematik zu sein, halten sich erstaunlich gut. So verbinden viele mit Mathematik ebenso wie mit Informatik, Naturwissenschaften und Technik unwillkürlich Hörsäle voller Männer.

Geradezu mantraartig wird für diese „MINT“-Fächer seit einigen Jahren um weiblichen Nachwuchs geworben, vor allem, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Mentorinnen schwärmen Schülerinnen von ihrem Mathe-Studium vor, „Girls’ Days“ sollen Mädchen in MINT-Berufe locken, und bunte Broschüren der Kampagne „Komm, mach MINT“ vermitteln jungen Frauen Botschaften wie „Mathe macht glücklich“.

Ein Blick in die Studierendenstatistik zeigt, dass viele Frauen das inzwischen schon wissen: Fast die Hälfte der Mathematikstudierenden sind Frauen. Im Wintersemester 2012/2013 waren es 48 Prozent, seit gut zehn Jahren hält sich ihr Anteil in dieser Größenordnung. Noch wenn man die angehenden Grundschullehrerinnen herausnimmt, für die Mathe im Studium Pflicht ist, beträgt der Anteil von Frauen noch 44 Prozent.

Diese Zahlen sind erstaunlich für ein Fach, das traditionell mit Eigenschaften wie „rational“ und „hart“ aufgeladen wird. Mathe hat ein kühles Denker-Image, es erscheint darum als Fach, das der „ganz natürlichen“ Neigung der Männer entgegenkommt, während Frauen sich damit widerwillig abquälen. Das aber scheint inzwischen weniger zu gelten.

Ist die Mathematik also die neue Musterschülerin unter den MINT-Fächern, oder gehört sie überhaupt noch dazu? Sollte fortan etwa nur noch von INT gesprochen werden, weil genügend Frauen das Fach erobert haben? Christina Haaf, Sprecherin der Kampagne „Komm, mach MINT“, die Frauen für naturwissenschaftlich-technische Studiengänge und Berufe gewinnen will, sagt: „Die Zahlen sind ein tolles Zeichen, dass die Mathematik auf dem besten Weg ist.“ Am Beispiel des Fachs lasse sich sehen, dass Frauen für MINT sehr gute Fähigkeiten hätten.

Doch wie hat es die Mathematik geschafft, für Frauen attraktiver zu werden? Und warum sind ausgerechnet die Mathe-Hörsäle die erste MINT-Bastion, die sie erobern? Anina Mischau, Professorin für Gender Studies in der Mathematik an der FU, glaubt, das könnte mit dem hohen Stellenwert zusammenhängen, den die Mathematik in der Schule einnimmt. „Das Fach kommt in vielen Bundesländern mittlerweile in der Abiturprüfung vor. Dadurch könnte Mathematik für Mädchen selbstverständlicher geworden sein.“ Studienfächer wie Informatik oder Astronomie dagegen sind für Mädchen doppelt fremdes Terrain – sie sind nicht nur männlich konnotiert, sie kommen auch kaum im Schulunterricht vor.

Doch die Mathematik unterscheidet sich auch noch in einem anderen Punkt von den INT-Fächern. Obwohl Mathe als „hart“, also als „männlich“ gilt, werden ihm zugleich Eigenschaften zugeschrieben, die dem traditionellen Rollenbild von Frauen nicht zuwiderlaufen: „Das Fach ist nicht nur etwas für Technik-Freaks, sondern hat auch etwas Vergeistigtes. Mathematik erfordert viel Geduld und kreatives Denken“, sagt Thomas Vogt, der Sprecher des Medienbüros der Deutschen Mathematiker Vereinigung, „und das sind auch, vielleicht sogar besonders, Stärken von Frauen.“ Deswegen könnte Mathe auf Frauen möglicherweise weniger abschreckend und „unweiblich“ wirken als etwa die Physik mit ihrem Nerd-Image. „Mathematik könnte das Einfallstor der Frauen in die MINT-Fächer sein“, glaubt Christina Haaf angesichts der Entwicklung. „Wichtig ist es, dass sich die Stereotype weiter aufweichen.“

Wie groß die Wechselwirkung zwischen Stereotyp und mathematischer Leistung trotz der vielen Frauen im Studium ist, zeigt eine neue Studie von Angela Ittel, Professorin für Pädagogische Psychologie an der TU Berlin. 425 Schülerinnen und Schüler der achten bis zehnten Klasse hat sie nach ihrer Selbsteinschätzung in Mathe befragt. Das Ergebnis: Obwohl Mädchen und Jungen in ihren Leistungen fast gleichauf waren, schätzten die Mädchen sich weit schlechter ein. Und: Hielt die Lehrkraft Mathematik für ein typisches „Jungsfach“, hatten die Schülerinnen schlechtere Noten. „Die Mädchen wissen nicht, dass sie genauso gut rechnen können wie Jungen“, sagt Ittel, und fügt lachend hinzu: „Vielleicht sogar besser.“

Die Erkenntnis, das Geschlechterstereotype die Leistungen beeinflussen, ist nicht neu. So zeigte der Sozialpsychologe Claude Steele Anfang der neunziger Jahre, dass Studentinnen weniger als halb so viele Punkte in einer Mathematikprüfung erzielten, wenn ihnen zuvor mitgeteilt wurde, es handele sich um einen Test, in dem Frauen generell schlechter abschnitten als Männer. Unter neutralen Bedingungen erreichten die Studentinnen ebenso gute Ergebnisse wie ihre männlichen Kommilitonen.

Diese Erkenntnisse nehmen biologistischen Erklärungsansätzen den letzten Wind aus den Segeln. Und sie bieten eine große Chance: Gegen Stereotype kann man kämpfen. Das bewies in Steeles Studie eine Gruppe von Probandinnen, die sich von den Äußerungen nicht beirren ließ, weil sie Geschlechterstereotype als solche erkannt hatte.

Darüber, warum Frauen die Vorherrschaft der Männer zumindest in den Mathe-Hörsälen brechen konnten, kann nur spekuliert werden. Vielleicht ist es eine Folge von jahrelangen MINT–Kampagnen und den guten Aussichten für MINT-Absolventen auf dem Arbeitsmarkt. Womöglich verstärkt sich dieser Effekt: Weil mehr Frauen Mathe studieren, gibt es auch mehr Vorbilder für Frauen. Offenbar ändert sich auch das Image des Faches: Es wird weniger als „hart“, sondern zunehmend auch als „geistig“ und „kreativ“ beschrieben, was dem traditionellen Rollenbild von Frauen entgegenkommt – das könnte dann bedeuten, die Zuschreibungen für das Fach ändern sich, während die Geschlechterstereotypen stabil bleiben.

Wie auch immer der Wandel zu erklären ist: An der Uni vollzieht er sich nur langsam. Im Jahr 2012 waren nur 14 Prozent der Mathe-Professuren mit Frauen besetzt. „Daran sieht man, dass wir von Gleichstellung im Fach leider noch meilenweit entfernt sind“, gibt Anina Mischau zu bedenken. Die „gläserne Decke“ scheint im Fach Mathematik also dicker zu sein und tiefer zu hängen als in anderen Fächern. Aber Angela Ittel ist sich sicher: „Wenn die Lehrenden den Schülerinnen konsequent vermitteln, dass stereotypisierende Zuschreibungen nicht zutreffend sind, sind Mathegenies auch öfter weiblich.“

Dass Mathematik nur dann ein „männliches Fach“ ist, wenn eine Gesellschaft das glaubt, zeigt auch der Ländervergleich. Etwa in Finnland, Island, und Malaysia erreichten Mädchen bei der Pisa-Studie von 2012 dort bessere Leistungen als Jungs. Darum ist Christina Haaf von „Komm, mach MINT“ optimistisch: „Der nächste Schritt ist jetzt, mehr Mathematikerinnen auch für wissenschaftliche und wirtschaftliche Karrieren zu gewinnen.“ Bis das gelungen ist, muss das M in „MINT“ wohl noch bleiben.

Einen Online-Test, mit dem Schülerinnen und Schüler ihr Interesse an MINT spielerisch testen sollen, hat die Initiative „Komm macht MINT“ entwickelt: http://dpaq.de/TgU4r. Self-Assessments für Studieninteressierte finden sich unter http://dpaq.de/wjh3v

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