Glyphosat und andere Umweltgefahren: Manchmal schadet Vorsorge mehr, als sie nützt
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel fordert "absolute Sicherheit" bei Pestiziden. Aber die gibt es nicht. Ein Kommentar.
Die SPD ist im Sinkflug. Das war wohl der Grund, weshalb Wirtschaftsminister und SPD-Mitglied Sigmar Gabriel sich gegen die Wiederzulassung des Herbizids Glyphosat wandte. Schließlich dampft der Anti-Glyphosat-Kampagnenzug seit Monaten durch die deutschen Medien. Schnell noch aufspringen, wird sich Gabriel gedacht haben, ein paar Stimmen sammeln.
Die Kampagnenbetreiber behaupten, dass Glyphosat gesundheitsschädlich sei. Ihr Kronzeuge ist die Internationale Agentur für Krebsforschung IARC, die das Mittel als wahrscheinlich krebserregend eingestuft hat. „Safety first, Gesundheit first. Ich bin dagegen, dieses Produkt überhaupt zuzulassen, solange diese Zweifel nicht ausgeräumt sind“, hat Gabriel gesagt und in Brüssel die EU-weite Zulassung blockiert. „Niemand sagt jedenfalls, dass absolut sicher sei, dass Glyphosat nicht krebserregend sei.“
Sicherheit zuerst: Das lieben die Deutschen
Klingt einleuchtend: Zweifel ausräumen, bis absolute Gewissheit besteht. „Sicherheit zuerst“: Das kommt immer noch gut bei den Deutschen an. Wobei Gabriel und die Seinen ignorieren, dass alle wesentlichen Expertengremien (zu denen die Krebsagentur IARC nicht zwingend gehört) zu dem Schluss gekommen sind, dass Glyphosat bei bestimmungsgemäßem Gebrauch nicht krebserregend ist und also keine Gefahr für den Verbraucher besteht. Ganz abgesehen davon, dass es logisch gesehen nicht möglich ist, zu beweisen, dass ein Risiko nicht existiert. „Absolute“ Sicherheit gibt es nicht.
„Vorsicht ist besser als Nachsicht“, lautet Gabriels Maxime. Er handelt nach dem Vorsorgeprinzip. Das besagt, dass Gefahren für Mensch und Umwelt schon im Voraus vermieden werden sollten, auch wenn das Wissen über die Belastung noch lückenhaft ist. Das erscheint auf den ersten Blick vernünftig, wer ist schon gegen Vorsorge? Zähneputzen gegen Zahnfäule, Impfen gegen Krankheiten, eine Haftpflichtversicherung fürs Auto, alles sinnvoll. Aber schon bei der Krebsvorsorge wird’s kritisch. Hier streiten die Experten, was nützt und was schadet. Vorsorge um jeden Preis? Kaum.
Dennoch, das Vorsorgeprinzip ist das Lieblingskind grüner Umweltpolitiker. Es ist eine Art Gummiparagraf. Er erlaubt es, Missliebiges ohne stichhaltige Beweise zu verbieten. Ein Beispiel ist das Verbot der grünen Gentechnik in großen Teilen Europas. Bei konsequenter Anwendung des Vorsorgeprinzips sähe unsere Welt völlig anders aus. Immer hätten sich Gründe gefunden, um bahnbrechende Entwicklungen zu stoppen, von Antibiotika (aus Pilzgiften hergestellt!) bis zum Internet.
Nur die Wissenschaft kann das Risiko seriös einschätzen
Natürlich ist es richtig, Pestizide oder Medikamente vor ihrer Zulassung zu prüfen oder, wie im Fall von Glyphosat, regelmäßig zu überwachen. In der viel und oft beschworenen Wissensgesellschaft sollte das jedoch vorrangig nach Maßgabe des wissenschaftlichen Erkenntnisstands erfolgen und nicht nach Lust und Laune von Politikern.
Das Vorsorgeprinzip ist nicht nur anfällig für Willkür. Mindestens genauso schwer wiegt die Tatsache, dass es die Folgen einer Entscheidung nicht bedenkt, Kosten und Nutzen nicht abwägt. Was bedeutet es, wenn eine neue Erfindung, ein neues Medikament, eine neue Technologie aus Gründen der Vorsorge nicht zugelassen wird? Im Fall eines Glyphosat-Verbots sind die Konsequenzen klar. Es muss mehr gepflügt werden, das bedeutet mehr Treibhausgase und Bodenerosion. Alternative Unkrautmittel sind zudem riskanter und ökologisch bedenklicher. Auch steigende Lebensmittelpreise infolge des Verbots wären nicht für alle ein Segen, auch nicht für alle SPD-Wähler.
Die Krebsagentur IARC, auf die sich die Glyphosat-Kritiker berufen, neigt zu originellen Entscheidungen, die gedeutet werden müssen wie das Orakel von Delphi. So hat die IARC das Sonnenlicht, die Pille und gepökelten Fisch zur Krebsgefahr erklärt. Mobiltelefone und ein großer Teil unserer Lebensmittel sind „wahrscheinlich“ oder „möglicherweise“ krebserregend. Im Oktober 2015 erwischte es Wurst und rotes Fleisch: krebserregend. Dieser Tage treffen sich die Leute von der IARC, um über Kaffee (Votum 1991: möglicherweise krebserregend), Mate und Heißgetränke zu beraten. Das Ergebnis ist absehbar. Sigmar Gabriel sollte darauf verzichten, nach dem Mittagessen in der Bundestagskantine noch einen heißen Espresso zu trinken. Reine Vorsorge, versteht sich.