Schweden in der Coronavirus-Krise: „Es ist nicht die Lösung, alles zu schließen“
Auch Nachbarland Norwegen zeigt sich irritiert über Schwedens Weg in der Corona-Krise. Dort aber hält man sich nicht für „merkwürdig“ – im Gegenteil.
Normalerweise fahren die skandinavischen Länder in den meisten Punkten einen gemeinsamen Kurs. Die – bezogen auf ihre Einwohnerzahlen – in Europa vergleichsweise kleinen Staaten sind sogar im Nordischen Rat zusammengeschlossen, nicht zuletzt, um sich auf politscher Ebene mehr Gehör zu verschaffen. Aber: Was ist in Zeiten der Coronavirus-Krise noch normal?
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Schwedens bisheriger Umgang mit der Pandemie jedenfalls wird von vielen in Europa und anderen Teilen der Welt gelinde gesagt irritiert betrachtet: Schweden geht mit den vergleichsweise moderaten Einschränkungen für die Bürger im Alltag einen Sonderweg. Dieser ruft jetzt sogar scharfe Kritik aus dem Nachbarland Norwegen hervor, das Mitte März einen Lockdown anordnete.
Die Kritik des Nachbarn wiederum irritiert die Schweden – sehen sie sich doch in ihrem eigenen Weg bestärkt, trotz weiter steigender Fallzahlen.
Espen Nakstad, Vizechef der norwegischen Gesundheitsdirektion, griff Schwedens Strategie in Interviews scharf an und bezeichnete den Ansatz als „völlig falsch“, wie die schwedische Tageszeitung „Dagens Nyheter“ (DN)berichtet. „Ich glaube, dass der etwas theoretische Gedanke ist, wenn man viele Kranke gleichzeitig hat, (…) könne man es leichter kontrollieren“, sagte Nakstad demnach dem norwegischen Sender NRK.
Und legte in der Zeitung „VG“ nach: Man könne sehen, dass Länder, die auf eine ähnliche Strategie gesetzt hätten wie Großbritannien und Schweden, schnell gezwungen gewesen seien, „die Ausbreitung niederzuschlagen, um Kontrolle zu bekommen“.
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In Schweden sind – Stand Donnerstagmittag – 8419 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet worden. An den Folgen von Covid-19 sind bisher 687 Patienten verstorben, die meisten davon im Großraum der Hauptstadt Stockholm.
Norwegen meldet 6042 bestätigte Infektionen und 101 Verstorbene. Zu berücksichtigen ist, dass in Norwegen und Schweden wie in vielen anderen Ländern bisher deutlich weniger getestet wird als beispielsweise in Deutschland.
Vom schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell, der die Regierung in Stockholm berät, gibt es heftigen Widerspruch zu den Aussagen aus Norwegen. Durchaus verständlich, betont Tegnell wie andere Experten auch beinahe täglich, wie wichtig es sei, die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Er verstehe die Sichtweise nicht, sagte Tegnell zu DN. „Unser Plan war nie, viele Erkrankte gleichzeitig zu haben, sondern das Gegenteil.“
In Schweden gibt es bisher wenig Beschränkungen. In dem Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern sind Grundschulen, Bars, und Restaurants geöffnet. Die Regierung appelliert lediglich immer wieder an die Bürger, soziale Kontakte zu minimieren, Abstand zu halten, Hygienevorschriften einzuhalten, nach Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten und bei Krankheitssymptomen auf keinen Fall zur Arbeit zu fahren. Zudem gilt ein Versammlungsverbot für mehr als 50 Menschen sowie ein Besuchsverbot in Pflegeheimen.
Dennoch oder vielleicht gerade wegen des schwedischen Sonderwegs hat Löfven seine Landsleute per Interview vorsorglich auf Tausende Tote vorbereitet. Er rechnet auch damit, dass die Pandemie sein Land noch Monate beschäftigen wird, wie er DN am vergangenen Wochenende sagte.
Die Einschränkungen im Alltag werden also nicht nach Ostern aufhören. Auch das ist ein Argument der schwedischen Führung, nicht auf einen kompletten Lockdown zu setzen. Die jetzige Strategie soll notfalls über Monate weiterverfolgt werden.
Parallel dazu hat die die rot-grüne Minderheitsregierung gerade ein Gesetz durch den Reichstag gebracht, mit dem restriktivere Maßnahmen wie Geschäftsschließungen oder schärfere Versammlungsverbote sehr schnell umgesetzt werden können.
Am Donnerstag warnte die Regierung, dass Lokale, die sich nicht an die vorgegebenen Abstandsregeln hielten, geschlossen werden könnten. „Ich will kein Gedränge in Biergärten sehen, nicht in Stockholm und nicht anderswo“, sagte Innenminister Mikael Damberg. Die Stockholmer Behörden kündigten für das Osterwochenende verschärfte Kontrollen an.
Der schwedische Regierungsberater Tegnell will auch Aussagen der norwegischen Staatsministerin Erna Solberg im US-Sender CNN, warum ihr Land der Coronavirus-Pandemie anders begegnet sei, so nicht gelten lassen. Solberg hatte gesagt, Norwegen habe vielleicht etwas Glück gehabt, weil man frühzeitig eine hohe Zahl infizierter Wintersportler aus den Alpen identifiziert habe und so die Ausbreitung schnell habe stoppen können.
Tegnell konnte auch hier keinen Unterschied ausmachen. „Wir hatten die gleiche Position. Und das galt für alle nordischen Länder.“ Die sei bei den wöchentlichen Besprechungen mit den „nordischen Freunden“ klar gewesen. „Es gab keinen Unterschied“, sagte Tegnell.
Gleichzeitig bestätigte er, dass es momentan so aussehe, als ob Norwegen erfolgreich sei im Kampf gegen das Virus. „Dort geht die Kurve deutlich nach unten, bedeutend besser als in Dänemark zum Beispiel. Dort sieht es nicht so vielversprechend aus.“ In Schweden werde die Kurve inzwischen wieder flacher, besonders in Stockholm betonte Tegnell.
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Die norwegische Regierung hatte für das Land mit seinen 5,4 Millionen Einwohnern am 12. März Ausgangsbeschränkungen verhängt, Kitas, Schulen und Universitäten geschlossen sowie Sport und Kulturveranstaltungen verboten; auch die Skigebiete waren im Gegensatz zu Schweden frühzeitig geschlossen worden.
Anfang der Woche hatte Norwegens Gesundheitsminister Bent Hoie gesagt, die Ausbreitung des Coronavirus sei „unter Kontrolle“. Die Übertragungsrate, die angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Schnitt ansteckt, sei auf 0,7 gesunken. Bevor die Restriktionen erlassen wurde, hatte dieser Wert bei 2,5, gelegen.
Regierungschefin Solberg kündigte am Dienstag erste Lockerungen an. Kindergärten werden am 20. und die Schulen für Erst- bis Viertklässler am 27. April geöffnet. Zudem dürfen die Norweger bereits ab dem 20. April wieder zu ihren beliebten Sommer- beziehungsweise Wochenendhütten fahren, auch Physiotherapeuten und Psychologen dürfen dann wieder arbeiten.
Friseure und Hautpfleger dürfen eine Woche später öffnen. Die Grenzen des Landes bleiben aber weiter geschlossen. Norweger, die in ihre Heimat zurückkehren, müssen zudem weiter 14 Tage lang in Quarantäne.
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Auch Dänemark, wo bisher 5597 bestätigte Infektionen und 218 Todesfälle gemeldet werden, lockert bereits bald die Einschränkungen für seine 5,6 Millionen Bürger. Ministerpräsidentin Mette Frederiksen sprach von einer „ersten vorsichtigen Phase“ der Öffnung des Landes: In einem ersten Schritt sollen dänische Kinderkrippen, Kindergärten sowie die Schulen für Kinder bis zur fünften Klasse ab dem 15. April wieder öffnen.
Damit will die dänische Regierung zunächst die Eltern entlasten, die sich neben der Arbeit im Homeoffice bislang auch noch um ihre jüngeren Kinder kümmern mussten.
Alle weiteren Maßnahmen wurden um vier Wochen verlängert: Die dänischen Grenzen, auch die nach Deutschland, bleiben vorläufig bis zum 10. Mai dicht. Gleiches gilt Frederiksen zufolge zumindest bis zur nächsten Phase der Öffnung – für Restaurants, Cafés, Kneipen sowie Theater und weitere Freizeiteinrichtungen. Versammlungen mit mehr als zehn Personen sind weiter verboten, Großveranstaltungen bis Ende August untersagt.
Staatsepidemiologe Tegnell sagte der Zeitung „DN“ weiter: „Es wird sehr interessant zu sehen, was passiert, wenn alles aufgehoben wird.“ Das mache ja allen Ländern Sorge. „Wie kommen wir da raus, nachdem fast das gesamte Leben lahmgelegt sei?“ Norwegen habe auf die allgemeine Strategie gesetzt, „so viel wie möglich geschlossen“ und das Problem eine Weile vor sich hergeschoben, um etwas Luft zu gewinnen.
„Wir versuchen eigentlich, genau das Gleiche zu machen, haben aber akzeptiert, dass es nicht die Lösung ist, alles zu schließen. Wir schließen so viel wie möglich auf freiwilliger Basis und es sieht so aus, dass wir genauso weit gekommen sind, wie andere Länder“, sagte Tegnell.
Der Epidemiologe fügte hinzu: „Ich hatte eine Telefonkonferenz mit britischen Kollegen und unsere gemeinsame Einschätzung war, dass wir mit unseren freiwilligen Maßnahmen genauso viel erreicht haben wie Großbritannien mit den Restriktionen.“ Er komme mehr und mehr zu der Auffassung, dass der Blickwinkel, Schweden sei „merkwürdig“, sich nicht halten lasse.
Sogar der in der Coronakrise heftig umstrittene US-Präsident Donald Trump hatte vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Blick auf Schweden gelenkt.
„Jetzt wird über Schweden geredet. Schweden leidet außerordentlich, ihr wisst das, oder?“, sagte Trump am Dienstagabend (Ortszeit) im Weißen Haus in Washington auf die Frage, welchen Rat er Ländern gebe, die nicht auf eine weitestgehende Reduzierung von Sozialkontakten setzten. „Schweden macht diese ,Herde', sie nennen es ,die Herde'“, fügte er hinzu und meinte damit wohl, dass Schweden bewusst daran arbeite, eine Herdenimmunität gegen das neuartige Coronavirus zu erreichen.
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„Nun, das kann man nicht ernst nehmen“, sagte Tegnell dazu am Mittwoch im schwedischen Fernsehen. Alle Länder litten mehr oder weniger unter der Viruskrise. „Es ist natürlich sehr schwierig in Schweden, nicht zuletzt im Gesundheitswesen. Aber verglichen mit der Situation in New York funktioniert es in Schweden weiter ziemlich gut.“ Der US-Bundesstaat New York verzeichnete allein von Montag auf Dienstag 731 neue Todesfälle bei Patienten mit Covid-19.
Auf die Frage, was der Präsident mit der „Herde“ aussagen wolle, sagte Tegnell: „Ich weiß nicht, was er damit meint, aber wir, die mit Infektionskrankheiten arbeiten, wissen ja, dass sich dieser Typ von Krankheit weiter ausbreiten wird, bis wir eine Immunität in der Bevölkerung erreicht haben“, so Tegnell. „Einen anderen Weg, um es zu stoppen, gibt es nicht.“