Kolumne "Was Wissen schafft": Lebensschützer experimentieren mit Emotionen
Die Bürgerinitiative "Einer von uns" will der Forschung an embryonalen Stammzellen die europäische Förderung streichen - und gefährdet so den medizinischen Fortschritt. Leidtragende sind die Patienten, meint unsere Autorin.
Jeder Embryo ist ein menschliches Wesen, ein ungeborenes Kind, dem die gleiche Würde zusteht wie allen anderen. Warum sollten wir es töten? Die europäische Bürgerinitiative „Einer von uns“ spielt mit Emotionen. Schon das bunte Logo zeigt, wie sich aus der befruchteten Eizelle ein Kind entwickelt. In Videos halten Mütter und Väter ihre strahlenden Babys in die Kamera. Stoppt EU-Gelder für Embryonenversuche und Klonen, fordern sie.
Seit zwei Jahren gibt es in der Europäischen Union eine neue Variante der Mitbestimmung: Wenn Bürger in mindestens sieben Mitgliedsstaaten mehr als eine Million Unterschriften sammeln, können sie ein neues Gesetz erwirken. Zumindest müssen sich Parlament und Kommission mit ihrem Anliegen auseinandersetzen.
Dieses Experiment in Sachen direkter Demokratie haben unter anderem zwei gut organisierte und streitbare Gruppen für sich entdeckt. Beide haben ein Problem mit der medizinischen Forschung – die Lebensschützer und die Tierversuchsgegner. Die Lebensschützer haben unter dem Motto „Einer von uns“ mehr als 1,9 Millionen Unterschriften gesammelt, vor allem in katholisch geprägten Staaten wie Italien, Spanien und Polen. Am Donnerstag wird es im Europäischen Parlament eine öffentliche Anhörung geben.
Stellvertreterkrieg auf dem Rücken der Stammzellforscher
Es ist ein Termin, der bei vielen besorgten Stammzellforschern im Kalender steht. Daniel Besser zum Beispiel, der am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin das Deutsche Stammzellnetzwerk koordiniert, wird extra dafür nach Brüssel reisen. Die Wissenschaftler haben das Gefühl, dass auf ihrem Rücken ein Stellvertreterkrieg ausgefochten werden soll. Bei Abtreibungen darf sich Europa nicht einmischen, das regelt jede Nation für sich. Also weichen die Lebensschützer aus. Die Europäische Union solle alle Aktivitäten ächten und nicht mehr finanzieren, bei denen menschliche Embryonen zerstört werden. Das gelte für die Forschung, aber auch für die Entwicklungshilfe. Demnach dürfte die EU auch keine Organisation mehr unterstützen, die in Kliniken der Dritten Welt unter anderem Abtreibungen anbietet.
Die Initiative „Einer von uns“ stützt sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom Oktober 2011 im Fall Greenpeace gegen den Bonner Stammzellforscher Oliver Brüstle. Die europäischen Richter untersagten damals Patente auf Verfahren, die bei menschlichen embryonalen Stammzellen angewandt werden.
Die Begründung hatte eine konservative Handschrift. Das Leben beginne mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Ab diesem Moment müsse man die Menschenwürde des Embryos achten. Trotzdem halte sich die EU nicht an die eigene Rechtsprechung, argumentieren die Lebensschützer jetzt. Bereits im November 2013 versuchten sie, der Forschung an embryonalen Stammzellen die Finanzierung zu entziehen. Erfolglos. Die Europäische Kommission lehnte es ab, die Regeln im Programm „Horizon 2020“ zu ändern. Nun probieren es die Lebensschützer über das Parlament.
Die Lebensschützer sprechen mit einer Stimme. Die europäischen Forscher nicht
Die von ihnen verteufelten Stammzellforscher kennen solche Angriffe. Nein, wir forschen nicht an Embryonen, betonen sie immer wieder. Um eine Stammzelllinie zu schaffen, wurden die Zellen zwar irgendwann einer befruchteten Eizelle entnommen. Doch aus ihnen kann sich kein Mensch mehr entwickeln.
Nein, die Forschung an embryonalen Stammzellen ist nicht überflüssig. Zwar kann man inzwischen ausgereifte Zellen zu Alleskönnern umprogrammieren. Doch die embryonalen Stammzellen bleiben der Goldstandard. An ihnen müssen sich die umprogrammierten Zellen messen. „Man kann das nicht trennen“, sagt Besser.
Und nein, die Stammzellforschung ist kein Hype, sondern ein junges Feld. Es kostet Zeit und Mühe, bis sich eine Behandlung so weit bewährt, dass sie an Patienten ausprobiert werden kann.
Im Gegensatz zu den selbst ernannten Lebensschützern fällt es den Wissenschaftlern schwer, mit einer Stimme zu sprechen. Während Großbritannien voranprescht, sind die mehr als 60 deutschen Labore an strengere Gesetze gebunden. Statements, die alle unterschreiben können, sind entsprechend kompliziert. Dabei müssen die Wissenschaftler für eine zweite Gruppe sprechen, die von der Bürgerinitiative ignoriert wird: Die Patienten, die irgendwann von den neuen Therapien profitieren könnten.
Jana Schlütter
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