SPD-Gesundheitspolitiker will Strategiewechsel: Lauterbach erklärt, wie der Impf-Turbo funktionieren kann
60 Millionen Erstimpfungen sind bis Juli möglich, sagt der SPD-Experte. Ein Beschluss der Impfkommission, der das ermöglicht, müsse jetzt schnell fallen.
Angesichts der dritten Welle in der Coronavirus-Pandemie, der nach wie vor knappen Vakzine und der Einschränkungen beim Mittel von Astrazeneca wird die Frage immer drängender, wie mehr Tempo in die Impfkampagne gebracht werden kann.
„Entscheidend ist, jetzt so vielen Menschen so schnell wie möglich die Erstimpfung zu geben“, sagt der SPD-Gesundheitsexperte und Arzt, Karl Lauterbach, dem Tagesspiegel. Dazu müsse die Impfstrategie geändert und der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung auf zwölf Wochen deutlich ausgeweitet werden. Lauterbach erneuert damit eine Forderung, die er zuvor Ende März im Interview mit dem Tagesspiegel erhoben hatte.
Eine entscheidende Rolle käme hierbei der Ständigen Impfkommission (Stiko) zu. „Der Ball liegt jetzt bei der Stiko. Ohne ihre Hilfe ginge das nicht“, sagte Lauterbach. Er regte eine schnelle Entscheidung der Kommission in dieser Frage an. „Ein solcher Strategiewechsel wäre wenn dann jetzt notwendig“, sagte Lauterbach.
Allerdings hat die Stiko ihre Empfehlung gerade erst geändert. Sie hatte zunächst für das Biontech/Pfizer-Mittel einen Abstand von drei bis sechs Wochen empfohlen, für den Moderna-Impfstoff einen Abstand von vier bis sechs Wochen.
In einem Beschlussentwurf vom 1. April zu einer Aktualisierung der Empfehlungen heißt es nun: „Die Gabe der zweiten Impfstoffdosis soll für die mRNA-Impfstoffe nach sechs Wochen und für den Astrazeneca-Impfstoff nach zwölf Wochen erfolgen, da dadurch sowohl eine sehr gute individuelle Schutzwirkung als auch ein größerer Effekt der Impfung auf Bevölkerungsebene zu erzielen ist.“
Lauterbach: 60 Millionen Erstimpfungen bis Juli
Lauterbach sagte, wenn der Abstand zur Zweitimpfung bei den mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna von sechs auf zwölf Wochen verlängert würde, könnten bis Juli über 60 Millionen Menschen in Deutschland erstgeimpft und so gegen schwere Krankheitsverläufe geschützt sein. „Wenn wir jetzt unsere Strategie wechseln und auf möglichst viele Erstimpfungen ausrichten, wird auch kein vierter Lockdown mehr nötig sein.“
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Der Epidemiologe sagte weiter: „Wir stehen vor einer sehr harten dritten Welle, da sollte sich niemand etwas vormachen. Unsere Modellierungen sind relativ eindeutig“, sagte Lauterbach. Aber so könnten „bis zu 10.000 Leben gerettet werden“.
Lauterbach verwies dabei auf Erfahrungen aus Großbritannien und eine Studie aus Australien sowie die Modellrechnungen unter seiner Beteiligung. Die Studienergebnisse aus Australien ließen darauf schließen, dass der Schutz von Biontech und Moderna auch zwischen der sechsten und zwölften Woche noch ausreichend stark sei.
Nur drei Prozent der neutralisierenden Antikörper von Genesenen reichten, um schwere Erkrankungen zu verhindern. „Schwere Verläufe und Todesfälle sind daher in den ersten drei Monaten nach der Erstimpfung wahrscheinlich sehr rar.“ Natürlich würde der eine oder andere erkranken, der bei einer früheren Zweitimpfung nicht erkrankt wäre, so Lauterbach zu den Risiken eines Strategiewechsels. „Aber ich halte das für absolut verantwortbar.“
Keine Zulassung für Ausweitung der Intervalle
Das Problem bei der Ausweitung der Intervalle sei, „dass es dafür keine Zulassung gibt“, erklärte Lauterbach. „Aber die Stiko hat ja auch pragmatisch entschieden, dass unter 60-Jährige nach einer Erstimpfung mit Astrazeneca jetzt die Zweitimpfung mit Biontech erhalten sollen.“ Bis zu den Problemen mit dem Astrazeneca-Präparat lautete die Empfehlung, dass Erst- und Zweitimpfung immer mit nur mit einem Impfstoff durchgeführt werden sollten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte in einem Brief an seine Länderkollegen vom 24. März gefordert, vorhandene Vakzine so schnell wie möglich zu verimpfen. „Dafür bitte ich eindringlich darum, im April weitestmöglich auf Rückstellungen von Impfstoffen für die Zweitimpfung zu verzichten, um mehr Erstimpfungen durchführen zu können“, heißt es in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt. Die meisten Länder hätten das Impfintervall bereits auf die empfohlene Länge ausgedehnt. An die Länder, die dies noch nicht getan hätten, „richte ich erneut die dringende Bitte, diese Anpassung schnellstmöglich vorzunehmen“, so der Minister.
Hausärzte beginnen jetzt mit Impfungen
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums vom Samstag sind gut zwölf Prozent der Deutschen mindestens einmal geimpft worden – mehr als zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger. 4,3 Millionen Menschen haben demnach bereits die zweite Impfung erhalten. Nach Ostern sollen Impfungen auch in bundesweit 35.000 Hausarztpraxen starten und dort allmählich hochgefahren werden. Später sollen auch Fachärzte, Privatärzte und Betriebsärzte mitimpfen.
Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, stützte den Vorschlag von Lauterbach und forderte, keine Dosen für Zweitimpfungen mehr zurückzulegen. „Wir haben derzeit über 1,2 Millionen Dosen Biontech und eine halbe Million von Moderna auf Lager in den Gefrierschränken liegen“, sagte Watzl der „Augsburger Allgemeinen“. „Wir müssen jetzt aber pragmatisch sein und alles verimpfen, was geliefert wird.“
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Möglich sei, dass der Schutz zwischen Woche sechs und zwölf etwas nachlasse. Doch: „Selbst wenn der Impfabstand etwas länger als sechs Wochen ist, retten wir dadurch möglicherweise mehr Menschenleben als wir schwere Erkrankungen riskieren.“
Ärztekammer: Reserven für Zweitdosen auflösen
Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sprach sich dafür aus, alle vorhandenen Impfstoffdosen für Erstimpfungen zu verwenden. „Angesichts der steigenden Neuinfektionszahlen sollten wir die Reservekapazitäten für die Zweitdosen weitgehend auflösen und diese sofort verimpfen“, sagte er am Osterwochenende der „Rheinischen Post“. Ab Ende April würden angesichts der vom Bund zugesagten Liefermengen ausreichend Kapazitäten für die Zweitimpfungen zur Verfügung stehen, argumentierte Reinhardt. Es müsse allerdings sichergestellt sein, dass die zugesagten Mengen auch wirklich geliefert würden.
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Studien hätten gezeigt, „dass der zeitliche Abstand für die Zweitimpfung ohne Nachteile ausgeschöpft werden kann und bereits nach der ersten Dosis eine gute Schutzwirkung vorhanden ist", führte Reinhardt aus. „Davon sollten jetzt möglichst viele Menschen profitieren. Das ist wesentlich, um die dritte Infektionswelle zu brechen.“
Ende März hatte sich auch Biontech-Mitbegründer Ugur Sahin für mehr Tempo ausgesprochen. „Man sollte alle Impfstoffe, die man hat, möglichst schnell verimpfen. Auch im Vertrauen darauf, dass neue Impfstoffe wöchentlich geliefert werden“, sagte er in einem Interview von RTL/ntv. Es solle kein Impfstoff für zweite Impfungen zurückgelegt werden. „Ich schätze das Risiko, dass Impfstoffe jetzt nicht geliefert werden und die zweite Impfung bei Menschen aufgeschoben werden muss, als gering ein“, sagte der Chef des Mainzer Unternehmens, das seinen Impfstoff gemeinsam mit dem US-Partner Pfizer herstellt.
In der Bevölkerung herrscht dagegen Skepsis, bis Ende des Sommers überhaupt eine Impfung zu erhalten. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur erwartet nur knapp ein Viertel (23 Prozent), dass das Ziel eingehalten wird, bis zum 21. September jedem Impfwilligen eine Corona-Impfung anzubieten. 62 Prozent rechnen nicht damit. 15 Prozent machten keine Angaben. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat mehrfach angekündigt, bis Herbstbeginn allen impfwilligen Erwachsenen in Deutschland ein entsprechendes Angebot machen zu wollen.