Gewässerökologie: Lasst die großen Fische schwimmen
Große Fische fangen und essen, die kleinen leben lassen. So lautet die logische Regel aller nachhaltigen Fischerei. Dumm nur, dass sie falsch ist.
Fische können nicht malen oder Skulpturen modellieren. Könnten sie es, dann hätten Fischarchäologen sicher viele Fruchtbarkeitssymbole von großen, dicken, schweren Fisch-Mamas gefunden, ganz ähnlich denen aus der menschlichen Kulturgeschichte. Denn große, dicke Fischweibchen sind wirklich deutlich fruchtbarer als kleinere Artgenossinnen. Das zeigt eine Analyse von in Australien und Panama arbeitenden Biologen, die jetzt in „Science“ erschienen ist.
Einmal Fünf ist nicht gleich fünfmal Eins
„Ein fünf Kilogramm schweres Weibchen hat einen massiv größeren Einfluss auf die Gesamt-Nachkommenzahl in einer Population als fünf Ein-Kilo-Weibchen“, sagt der Evolutionsbiologe Diego Barneche von der University of Sidney. Die Ergebnisse bedeuten nichts anderes, als dass weltweit das Fischereimanagement eigentlich komplett umgestellt werden müsste – und dass auch Angler mit ihren Fängen anders umgehen sollten.
Barneche und seine Kollegen analysierten Daten von 342 marinen Fischarten. Bei 95 Prozent von ihnen legten die großen Weibchen überproportional mehr Eier als kleinere Artgenossinnen. Oft war auch die Qualität – also der Fett- und Eiweißvorrat pro Ei – deutlich besser.
BOFFFF und der Big-Mama-Effekt
Für Fischereibiologen kommen die Ergebnisse alles andere als überraschend. Denn von einzelnen Arten kennen sie längst das Phänomen, dass sie BOFFFF nennen. Die Abkürzung steht für Big Old Fat Fecund Female Fish – große, alte, fette, fruchtbare, weibliche Fische. Trotzdem sind manche „glücklich“ über die neue Analyse. Zu ihnen gehört Robert Arlinghaus, Professor für Biologie und Ökologie der Fische am Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Denn die Studie zeige, was er und andere schon lange vermuteten: Das Big-Mama-Phänomen ist nicht Ausnahme, sondern Regel. Arlinghaus etwa hat zusammen mit Kollegen bereits 2010 für die Angelfischerei auf Hechte angemahnt, aus dem BOFFFF-Effekt auch in der Praxis Konsequenzen zu ziehen. Die heißen etwa „Einführung von Maximalmaßen zusätzlich zu Mindestmaßen“, erklärt Arlinghaus.
Bisher gilt für die Angelfischerei in Deutschland nur das Mindestmaß. Je nach Art ist es so festgelegt, dass Tiere zumindest einmal die Chance haben sollten, sich fortzupflanzen. Ein Hecht, der kürzer als 45 Zentimeter ist, muss zurück in die Havel. Wie beliebig schon diese Regel ist, zeigt allein die Tatsache, dass sie je nach Bundesland unterschiedlich sein kann. Fällt ein Hecht in der Donau auf den Blinker herein, muss er fünf Zentimeter länger sein, damit Angler oder Anglerin ihn mitnehmen dürfen.
Beziehungsweise müssen. Denn große Fische dürfen allerhöchstens ausnahmsweise zurückgesetzt werden. Viele Angler tun das zwar oft, weil sie einen Zwei-Meter-Sechzehn-Wels gar nicht essen können oder wollen und ihnen ein Selfie mit Fang reicht. Doch wer den kapitalen Fang wieder zurücksetzt, verstößt eigentlich gegen das Tierschutzgesetz. Die Praxis, genannt Catch-and-Release, ist verboten, weil offiziell nicht Spaß, Erholung oder Naturerlebnis Zweck der Angelfischerei ist. Nur „Entnahme“ und Verwertung rechtfertigen es demnach, Fische per Angel zu stressen. Wer ganz ohne die Absicht, Fische zu entnehmen, die Schnur auswirft, macht sich des "Angelns ohne vernünftigen Grund" schuldig, und das ist verboten.
In der kommerziellen Fischerei mit Netzen und Reusen sieht es ähnlich aus. Hier wird unter anderem über die Weite der Maschen sichergestellt, dass Kleine entkommen können. Große werden schon deshalb entnommen, weil kein Berufsfischer nur zum Spaß Netze auswirft.
Lob des Mittelmaßes
Stattdessen wären sowohl beim Angeln als auch in der Berufsfischerei so genannte „Entnahmefenster“ sinnvoll, sagt Arlinghaus. Die größten Exemplare sollten sowohl vom Haken als auch aus dem Netz zurück in die Freiheit entlassen werden. Gefangen werden dürfte das Mittelmaß. In manchen Gewässern der USA hat man bereits begonnen, solche Regeln, die Berufsfischer bares Geld kosten und deshalb unbeliebt sind, einzuführen.
Allerdings sind einige Fragen weiter offen. Etwa die, ab welcher Schwelle bei Tierarten, die so oder so viel mehr Junge produzieren als jemals das fortpflanzungsfähige Alter erreichen können, ein Verlust der großen Exemplare überhaupt eine Rolle spielt. Fische sind durchweg solche Übererfüller des Nachwuchsplans. Selbst gerade erst geschlechtsreif gewordene Weibchen produzieren oft schon mehrere tausend Eier. Dustin Marshall von der Monash University in Melbourne, Mitautor der Studie, sagt, es fehlten schlicht die Daten um solche Fragen beantworten zu können. Arlinghaus widerspricht. Seine Modellrechnungen zeigten klar, dass „es sehr sinnvoll ist, die großen Megalaicher in befischten Beständen zu erhalten“. Tatsächlich reichten zwar meist auch geringere Zahlen von Eiern aus, um genügend Nachwuchs zu „rekrutieren“, wie es in der Fachsprache heißt. Große, alte Weibchen könnten aber gerade in Situationen, in denen bereits stark überfischt wurde, „als Fruchtbarkeitsreserve dienen und für eine genügend hohe Zahl Eier sorgen“. In solchen Fällen könnten ein paar von ihnen den Unterschied machen und den kompletten Zusammenbruch abwenden. Dazu komme, sagt Arlinghaus, dass unterschiedlich große Fische sich an unterschiedlichen Orten aufhalten und ablaichen. Auch dies habe eine Puffer-Funktion, wenn etwa der Mensch in die Ökosysteme eingreift.
Nicht uneins sind die Forscher über etwas anderes: Sie gehen auch davon aus, dass in Schutzgebieten die dort natürlich erhaltenen Präsenz alter Mega-Muttertiere zur Stabilität der Bestände beiträgt.
Schlaue Veteranen
Die Bedeutung alter, großer Fische geht aber noch weit über die reine Reproduktion hinaus. Praktiker wie der Havel- und Elbfischer Wolfgang Schröder beobachten immer wieder, wie anders sich alte Fische im Vergleich zu jungen verhalten. Dass sie so groß und alt geworden seien, habe ja seinen Grund, sagt Schröder: „Sie machen Erfahrungen, lernen, merken sich alles und werden immer besser darin, Gefahren zu meiden.“ Oft sieht er solche Exemplare etwa vor einem Stellnetz stehen, offenbar wissend, dass hier eine Falle droht. Aus Zugnetzen springen sie gerne einfach heraus, zurück in die Freiheit. Es gibt auch Studien, die das bestätigen. Arlinghaus etwa fand zusammen mit Kollegen bei Amago-Forellen in Japan, dass alte, große Exemplare praktisch unfangbar wurden. Auch dazu, dass solche Veteranen als Leitfische für die Fischjugend bedeutsam sind, gibt es Untersuchungen. Bei Dorschen etwa sind sie wichtig, um gute Laichplätze zu finden. „Kleine Fische lernen von großen“, so der Berliner Gewässerökologe.
Und dann ist da noch ein weiterer Aspekt der schieren Menge: Mehr Fischeier und Fischlarven bedeuten schlicht auch mehr Nahrung für andere Fische und sonstige Räuber am Riff, am Grund und im Freiwasser. „Studien haben gezeigt, dass diese Massen junger Fische hocheffizient darin sind, Nahrung in Biomasse umzuwandeln“, sagt Barneche. Dadurch bleibe „mehr Energie in der Nahrungskette eines Ökosystems erhalten.“