Lebenserwartung: Länger leben im Ländle
Die Deutschen werden immer älter – aber im Süden lebt man länger als im Norden. Und Arme sterben früher. Was sind die Ursachen?
Alle Menschen sind sterblich. Doch in der Anwendung dieser eisernen Regel erschöpft sich die Gerechtigkeit von Gevatter Tod bekanntlich auch schon. Wie früh oder wie spät er jemanden aus dem Leben reißt, ist nicht nur individuell extrem unterschiedlich. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch beim statistischen Blick auf die durchschnittliche Zahl der Erdenjahre, die er Menschen verschiedener Zeitepochen und Regionen zubilligt. So hat sich die Lebenserwartung in Deutschland seit der Zeit der Reichsgründung im Jahr 1871 mehr als verdoppelt. Allein im Zeitraum zwischen 1950 und heute, den viele persönlich überblicken, kamen rund 14 kostbare Jahre hinzu.
Zur gleichen Zeit, in der in Deutschland ein Mädchen mit der Aussicht auf 83 Jahre Leben auf die Welt kommt und in der einer Frau, die schon ihren 60. Geburtstag gefeiert hat, noch mehr als 25 Jahre bleiben, muss sich ein Mädchen in Swasiland mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 48 Jahren begnügen.
Der größte Abstand liegt zwischen Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt
Im Vergleich zu diesen Unterschieden wirken die innerdeutschen Differenzen, die das Statistische Bundesamt vor Kurzem nach Auswertung der aktuellen Sterbetafeln präsentierte, auf den ersten Blick nicht besonders spektakulär: Der größte Abstand, der sich zwischen Bundesländern in der Lebenserwartung zeigt, nämlich der zwischen den Männern in Baden-Württemberg und in Sachsen-Anhalt, beträgt schließlich „nur“ drei Jahre und zwei Monate.
Selbst solche Unterschiede sind in einer Gesellschaft, deren Anspruch es ist, die Gesundheit aller Mitglieder gleichermaßen im Blick zu haben, erklärungsbedürftig. Dazu kommt, dass sie größer werden, sobald man das Einkommen berücksichtigt. Beim Kongress „Armut und Gesundheit“ wurden kürzlich in Berlin Daten des Robert-Koch-Instituts zu Gesundheit und sozialer Lage vorgestellt. Sie zeigen, dass Frauen mit Armutsrisiko im Vergleich zu Angehörigen höherer Einkommensgruppen im Durchschnitt acht, Männer sogar elf Jahre kürzer leben.
Von diesem Befund führt eine Brücke zu den regionalen Unterschieden. „Wir wissen, dass die Lebenserwartung in Regionen mit hoher struktureller Arbeitslosigkeit niedriger ist“, sagt Sebastian Klüsener, der am Max-Planck-Institut für Demografische Forschung in Rostock im Arbeitsbereich Demografische Daten forscht. Als Beispiele für solche Entwicklungen nennt er die Stadt Pirmasens, eine frühere Hochburg der Schuhindustrie, aber auch das Ruhrgebiet und ehemals florierende norddeutsche Hafenstädte wie Bremerhaven und Wilhelmshaven.
Früher lebten die Nordlichter länger
Vor 100 Jahren lebten die Bürger dort, im Nordwesten des Landes, aber auch in Hessen, noch deutlich länger als im Süden. Inzwischen habe es „drastische Verschiebungen in den regionalen Mustern der Lebenserwartung“ gegeben, berichtet Klüsener. Aus dem Nord-Süd-Gefälle ist ein Süd-Nord-Gefälle geworden. Daten und Erklärungsversuche für diese langfristige Entwicklung präsentierte der Wissenschaftler zusammen mit Kollegen 2015 in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“.
Zwar hat es seiner Untersuchung zufolge auch früher schon eine Verbindung zwischen Lebenserwartung und prosperierender Wirtschaft gegeben. Weil die Industrialisierung anstrengende und teilweise gesundheitsschädliche Tätigkeiten mit sich brachte, sei dieser Zusammenhang nicht so ausgeprägt gewesen wie heute, sagt Klüsener. So starben die Schlesier im Durchschnitt besonders früh.
In Bayern starb noch 1910 eines von vier Kindern
Im Unterschied zu heute war die Lebenserwartung zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Bayern, das noch ganz im Zeichen der Lederhose und nicht des Laptops stand, besonders niedrig. Das führen die Autoren der Studie teilweise auf die besonders hohe Säuglingssterblichkeit zurück. Während in Norddeutschland 1910 nur noch eines von zehn Babys den ersten Geburtstag nicht erlebte, war es im rückständigeren Bayern eines von vier Kindern. Der Grund: Viele Mütter, die schnell wieder aufs Feld oder zu anderer Arbeit mussten, stillten ihre Kinder nicht, sie wurden stattdessen mit Mehlbrei und Zuckerwasser gefüttert und starben oft an Durchfall, den sie sich durch verseuchtes Wasser zugezogen hatten. Man habe „kein großes Aufhebens“ vom Tod eines Säuglings gemacht, berichtete der aus Oberbayern stammende Schriftsteller Oskar Maria Graf. Schon bald sei ja ein anderes Neugeborenes auf den Vornamen seines verstorbenen Geschwisterchens getauft worden.
Während dieses Schicksal kleine Jungen wie kleine Mädchen traf, sind insgesamt die regionalen Unterschiede in der Lebenserwartung bei der weiblichen Bevölkerung kleiner als bei der männlichen. „Die Lebensform der Frauen wurde vor allem in der Vergangenheit nicht so stark von regionalen, beruflichen und sozialen Unterschieden bestimmt“, meint Klüsener. Dazu passt, dass zwischen den Frauen der neuen und der alten Bundesländer heute keine Differenz in der statistischen Lebenserwartung mehr besteht.
Ost und West passen sich an
Insgesamt spricht man beim Statistischen Bundesamt von einer raschen Anpassung zwischen Ost und West, da sich die kurz nach der Wende bestehende Differenz innerhalb der sieben Jahre zwischen 1991 und 1998 halbierte. Grund dafür seien vermutlich die bessere medizinische Versorgung und bessere allgemeine Lebensbedingungen.
Als Anfang des Jahres der Deutsche Herzbericht vorgestellt wurde, gab es weniger optimistische Töne. Am Herzinfarkt sterben in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen mehr Menschen als in Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg. 99 Todesfälle pro 100 000 Einwohner sind es in Sachsen-Anhalt, 43 in Schleswig-Holstein. Neben der unterschiedlichen Facharztdichte könnte auch der Lebensstil eine Rolle spielen, allen voran das Rauchen.
Spannend ist in diesem Zusammenhang ein Blick nach Skandinavien. Jahrzehntelang war die Lebenserwartung der dänischen Frauen deutlich niedriger als die der Schwedinnen oder Norwegerinnen. Eine Studie des Rostocker Max Planck-Instituts belegt nun, dass das Blatt sich zu wenden beginnt. Die Däninnen haben aufgeholt. Die Forscher führen das darauf zurück, dass dänische Frauen heute seltener zur Zigarette greifen.
Adelheid Müller-Lissner