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Millimetergenau. Eine Spule über dem Kopf des Patienten stimuliert das Gehirn. Anhand der Reaktionen lässt sich erkennen, welche Hirnareale für die Motorik sowie das Sprechen wichtig sind.
©  Charité

Blick durch den Schädel: Landkarte des Gehirns

Hirnchirurgen stehen oft vor einem Dilemma: Entfernen sie einen Tumor, könnten wichtige Nervenzellen zerstört werden. Mit einer neuen Methode lässt sich nun schon vor der OP erkennen, ob ein Eingriff machbar ist.

Ein bösartiger Tumor im Gehirn – diese Diagnose ist für Betroffene eine niederschmetternde Botschaft. Oft haben sie bereits bemerkt, dass etwas „im Kopf nicht stimmt“. Alltägliche Bewegungen von Armen und Beinen wurden plötzlich unmöglich, kleine epileptische Anfälle haben sie beunruhigt. Nun erfahren sie, dass in der Magnetresonanztomografie (MRT) ein Tumor zu sehen ist. Womöglich ein Glioblastom, das der daran erkrankte und vor eineinhalb Jahren verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wegen seiner besonderen Aggressivität als „Rolls Royce“ unter den Tumoren bezeichnete.

Dilemma des Chirurgen

Nicht selten kommt zum Schock der Diagnose noch ein zweiter hinzu: Womöglich kann die bösartige Gewebemasse, die Denken, Fühlen, Sprechen, Verhalten und Bewegung bedroht, nicht – oder zumindest nicht vollständig – entfernt werden, ohne genau diese Funktionen durch den Eingriff selbst zu schädigen. Selbst mithilfe des Verfahrens einer funktionellen MRT ist das nicht klar zu entscheiden. Es würde sich erst herausstellen, wenn der Neurochirurg bereits die Schädeldecke geöffnet hat. Ein Dilemma. Und in vielen Fällen ein Grund, besser die Finger von der Operation zu lassen.

An der Charité Berlin wurde vor zehn Jahren ein Weg entdeckt, um vorher Klarheit zu gewinnen. Es handelt sich um eine Methode, mit der sich durch die geschlossene Schädeldecke hindurch („transkraniell“) recht genau erkennen lässt, ob die bösartige Geschwulst dicht an Hirnareale grenzt, die für Bewegung und Sprache entscheidend sind. Die Transkranielle Magnetstimulation (TMS) ist in der Neurologie und Psychiatrie bereits länger bekannt, wurde dort zuvor in der Schmerztherapie und bei der Diagnostik von Epilepsien eingesetzt. „Wir haben das Verfahren eher zufällig für den diagnostischen Einsatz in der Neurochirurgie entdeckt und dann weiterentwickelt“, berichtet Thomas Picht, Leiter des TNS-Labors an der Klinik für Neurochirurgie der Charité auf dem Campus Virchow.

Tumor oder essentielles Hirngewebe?

Dort wurden jetzt beim 500. Patienten die motorischen Hirnfunktionen per navigierter TMS (nTMS) millimetergenau kartiert. Für das Team war das ein Anlass, die Methode auch Medienvertretern vorzustellen. Entlang einer Stimulationsspule, die die Studienassistentin über den Kopf des Patienten bewegt, entsteht ein Magnetfeld, das in kleinen Bereichen der Hirnrinde ein elektrisches Feld erzeugt. So wird eine geringe Menge Nervenzellen mit geringer Intensität stimuliert. An den Armen und Beinen des Patienten sind Elektroden angebracht, mit denen die kleinen elektrischen Signale registriert werden. Der Patient empfindet sie allenfalls als leichtes Zucken. Auf dem Bildschirm leuchtet der entsprechende Punkt im Gehirn gelb auf, so entsteht nach und nach eine Landkarte der Bewegungsareale der Hirnrinde und der Nervenfaserbahnen, ausgehend von den markierten Punkten.

Glücklicherweise zeigen sich dicht am Tumor des Patienten, der an diesem Tag untersucht wird, keine besonderen Reaktionen. Das bedeutet, sein Gliom kann entfernt werden, ohne dass dadurch sensibles Nervengewebe in Gefahr geriete und er Angst haben müsste, eine Lähmung davonzutragen.

Geht es um die Suche nach Arealen, die Sprachfunktionen betreffen, dann ist die aktive Mitarbeit des Patienten gefragt. Dieser muss während der Untersuchung kommunizieren. Sobald sensible Hirngebiete stimuliert werden, zeigt sich das an (vorübergehenden) Problemen mit dem Sprechen. „Prinzipiell ist das Risiko, auf solche Areale zu stoßen, bei der Sprache größer, denn sie sind stärker über die Hirnrinde verteilt“, erläutert Picht.

Aggressivere OPs, aber weniger Lähmungen

Das Ziel der Neurochirurgen besteht darin, mehr Patienten eine Operation zu ermöglichen und dabei möglichst auch einen Sicherheitssaum von gesundem Gewebe zu entfernen. Die Daten aus den Stimulationstests stehen auch im OP-Saal zur Verfügung, sie lassen sich in das Navigationssystem einspeisen. Kommt der Neurochirurg während des Eingriffs an eine sensible Stelle, kann er dort nochmals elektrisch stimulieren, diesmal allerdings direkt.

Die Studien zur Motorik sind ermutigend. Sie zeigen, dass mittels nTMS die Anatomie des Gehirns sehr genau beurteilt werden kann. Die „Landkarten“, die die Neurochirurgen vor der Operation von außen erstellen, stimmen mit der Realität überein. Und obwohl immer aggressiver operiert wird, also bewusst auch gesundes Gewebe entfernt wird, hat sich die Anzahl der bleibenden Lähmungen in den letzten Jahren mehr als halbiert.

Studien ermutigen die Hirnchirurgen zu beherztem Vorgehen

Für eine Studie der Charité-Neurochirurgen von Oktober letzten Jahres wurden 250 Patienten, die die Untersuchung bekommen hatten, mit 115 Patienten aus der Zeit vor 2005 verglichen. In 35 Prozent der Fälle hatte die nTMS die Operateure zu einer beherzteren Vorgehensweise ermutigt, die Anzahl der ganz entfernten Tumoren war von 42 Prozent auf 59 Prozent gestiegen – mit deutlichen Auswirkungen auf die Überlebenschancen.

Schon ein Jahr zuvor hatte eine kleinere Studie belegt: Die Ergebnisse der nTMS stimmen auch hinsichtlich der Sprachzentren gut mit denen überein, die bei einer Stimulation während des Eingriffs selbst gewonnen werden. Für diese Tests müssen Patienten, um deren Sprache die Ärzte bangen, während des Eingriffs heute wach und ansprechbar bleiben.

Die nTMS wird inzwischen auch in zehn weiteren deutschen Kliniken eingesetzt, um die Entscheidung, ob und wie ein Hirntumor operiert werden sollte, auf ein solides Fundament zu stellen. Auch international wachse das Interesse, sagt Picht. Einer ganzen Reihe von Patienten, bei denen man früher keinen Eingriff gewagt hätte, habe sich dadurch zumindest eine Chance eröffnet.

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