Elektro-Therapie: Mit der Welle aus dem Tal
Stromschläge und Magnetstrahlen gegen Depression? An der Charité geht ein Arzt neue Wege: Er heilt Patienten mit Elektro-Therapien. Ein Besuch in der Psychiatrie.
Tinas Weg nach unten, tief nach unten, begann im Jahr 1994. Tina S. sitzt in der Charité in Charlottenburg, Klinik für Psychiatrie, Raum 1121, und erzählt. „Ich arbeitete an der S-Bahn-Station Frohnau, verkaufte Fahrkarten, damals wurden die noch per Hand verkauft!“ Bis 1994. „1994 wurde ich von einem Automaten ersetzt.“ Auf einmal war Tina arbeitslos – etwas, das sie einfach nicht verkraftete. Dieses Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, überflüssig zu sein. Wertlos.
Wenn sie sich morgens aus dem Bett zerrte nach einer eher schlaflosen Nacht, wusste sie nicht, was anzufangen mit dem bevorstehenden Tag. Der Tag stand vor ihr wie eine unüberwindbare Mauer. Statt Hilfe zu suchen, tat sie das Gegenteil: brach alle sozialen Kontakte ab. „Versündigte mich“, wie sie immer wieder sagt, diese Frau, die an ihrem Hals ein Goldkettchen trägt mit einem Kreuz. Ihr Haar ist kurz mit grauen Strähnen, ihr Oberteil rosa. Diese Woche wird sie 66.
Tina sitzt im Büro von Malek Bajbouj (sprich: Baschbusch), 35, Psychiater, Depressionsforscher, sein Spezialgebiet: Das Gehirn depressiver Patienten zu stimulieren, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Das Ziel: die chemische Balance im Kopf, die bei der Depression gestört ist, wieder herzustellen. Dazu wendet der Arzt diverse Methoden an. Eine ist die Elektrokrampftherapie, EKT.
„Bei der EKT werden sofort Horrorszenarien wach“, sagt Bajbouj, er spricht ruhig, fast sanft. Szenen aus dem Kinofilm „Einer flog übers Kuckucksnest“ zum Beispiel, in dem Jack Nicholson einen Kleinkriminellen spielt, der in eine Anstalt eingeliefert wird. Die Methoden dort sind brutal. Die Patienten werden mit Elektroschocks, ja selbst Lobotomien (chirurgische Nervendurchtrennungen des Gehirns), ruhiggestellt. „Die heutige EKT hat mit diesen martialischen Methoden nichts zu tun“, sagt Bajbouj. „Schlimm, dass es dieses Schreckensbild gibt, denn die EKT ist das wirksamste Mittel gegen Depressionen überhaupt.“
Tatsächlich hat die Elektrokrampftherapie auch Tina geholfen. „Diese Therapie“, sagt sie, „hat mein Leben gerettet.“
Seit ihrem Schicksalsjahr 1994 wurde Tina wiederholt von Depressionen heimgesucht. „Man hat mich mit Medikamenten vollgestopft.“ Es half alles nichts. Schließlich landete sie bei Bajbouj in der Charité und entschloss sich für die Elektrokrampftherapie. „Angst? Ein bisschen ulkig fand ich’s schon“, sagt sie. „Aber nein, ich hatte keine Angst.“
Bajbouj zeigt den Raum, wo die EKT stattfindet. Einst verabreichte man den Patienten die Elektroschocks bei vollem Bewusstsein. Die Stromstärke war sehr hoch, der Körper verfiel in einen epileptischen Anfall – manche Patienten brachen sich dabei sogar die Knochen.
Heute findet die Prozedur unter einer kurzen Vollnarkose statt. „Der Patient bekommt davon nichts mit“, sagt Bajbouj. Die Stromstärke ist gering. Außerdem werden vorher die Muskeln medikamentös gelähmt, so dass es nicht zu Zuckungen kommt. Dann setzt der Arzt zwei kleine schwarze Kolben an die rechte Schädelseite und ein kurzer, maximal acht Sekunden langer Strom fließt durch die rechte Hirnhälfte.
Nach fünf Minuten ist der Patient wieder wach. Und obwohl keiner weiß, was dabei genau geschieht, der Strom wirkt: Etwa 80 Prozent der Patienten kommen aus ihrem Tief heraus. Eine Sitzung reicht dafür nicht, meist braucht man einen knappen Monat mit drei Behandlungen pro Woche. Nach und nach stellt sich eine neue Balance der Botenstoffe im Gehirn ein. Offenbar aktiviert der Strom insbesondere die hemmenden Regelkreise des Gehirns – doch warum das die Stimmung hebt, ist auch den Ärzten ein Rätsel.
Tina hat gut zehn EKT-Sitzungen hinter sich. „Es ist erstaunlich, wie gut die Therapie bei ihr angeschlagen hat“, sagt Bajbouj. „Als sie hierher kam, hatte sie keine Energie, lag nur im Bett, sogar zum Zähneputzen musste man sie auffordern. Jetzt denkt sie schon wieder ans Tanzen.“
Tina hat die EKT gut überstanden. Obwohl sich auch bei ihr eine typische Nebenwirkung zeigt: Ihr Kurzzeitgedächtnis hat vorübergehend nachgelassen. „Das kommt zwar wieder zurück, ist aber ein Nachteil der Therapie“, sagt Bajbouj. Deshalb ist er ständig auf der Suche nach sanfteren und eventuell noch wirksameren Verfahren.
Eins davon ist die transkranielle Magnetstimulation (TMS). Da man dafür keine Narkose braucht, bietet Bajbouj mir eine kleine Probesitzung an. Er fährt den Stimulator, eine Art Riesenschmetterling, an die linke Seite meines Kopfs und drückt einen Knopf. Es fängt an zu ticken. Ticktickticktick ... Mit jedem Tick schießt ein Magnetstrahl durch meinen Schädel und aktiviert mein linkes Stirnhirn.
Bei einer Depression ist das Gehirn aus dem Gleichgewicht: Der linke Stirnlappen ist oft „erlahmt“, der rechte überaktiv. Dieses Ungleichgewicht geht mit negativen Gefühlen einher. Balanciert man die Aktivität der Hirnhälften wieder aus, bessert sich die Stimmung.
Genau das versucht man mit der Magnetstimulation: Je nach Frequenz lässt sich mit dem Magneten das Gehirn entweder anregen oder hemmen. Bei depressiven Patienten versucht man, dem erlahmten linken Stirnlappen neues Leben einzuhauchen und den übererregten rechten Stirnlappen runterzufahren. „Viele Patienten mögen die Behandlung“, sagt Bajbouj. „Sie ist nicht aufwendig, tut nicht weh, es gibt keine Nebenwirkungen, dafür ist auch die Wirkung gering.“
Die Zukunft sieht der Arzt in einem Stimulationsverfahren, das EKT und TMS kombiniert: die Magnetkonvulsionstherapie, MKT. Bajbouj hat das Gerät in der Ecke seines Büros stehen – es ist eins von vier Geräten weltweit. Sieht aus wie ein massiver, schwarzer Kopfhörer. Der sendet Magnetstrahlen aus, die das linke Stirnhirn aktivieren. Wie bei TMS, nur dass der Magnet stärker ist. Zugleich ist das Verfahren schonender als die EKT.
Tinas Tage in der Klinik sind gezählt. Sie wird noch diese Woche entlassen. Zum Abschied erzählt sie von einem Glückserlebnis, das sie heute hatte: „Wissen Sie, wenn Sie depressiv sind, empfinden Sie nicht nur Trauer. Sie empfinden gar nichts, nur noch Leere. Sie können nicht mehr lachen. Aber auch nicht mehr weinen. Heute sagte mir meine Zimmergenossin, sie sei entlassen und würde morgen wieder nach Hause gehen. Ich habe geweint. Ich habe seit Jahren das erste Mal wieder geweint. Es war wunderbar.“