Umgang mit Tierversuchen: Labormäusen unnützes Leid ersparen
Berlin soll Hauptstadt der Alternativen für Tierversuche werden. Aber nicht jeden Test kann man in der medizinischen Forschung vermeiden.
Der Affe schaut direkt in die Kamera. In seinem Blick liegt eine Anklage, in seinem Kopf stecken Elektroden. Das Plakat der Tierschutzpartei war im Berliner Wahlkampf nicht zu übersehen. Fotos wie dieses kennt jeder, das Unbehagen wohl auch: Tierversuche sind ein emotional aufgeladenes Thema.
„Solche Versuche durchzuführen, fällt niemandem leicht“, versichert Martin Lohse, Wissenschaftlicher Vorstand des Max-Delbrück-Centrums in der Helmholtz-Gemeinschaft. Dass es ganz normale, oftmals feinfühlige und überdies tierliebende Menschen sind, zu deren Forschungstätigkeit Experimente mit Tieren gehören, zeigt sich auf der Webseite der Initiative „Tierversuche verstehen“. „Wem das gar nichts ausmacht, der sollte keine Tierversuche machen“, sagt dort etwa die Veterinärmedizinerin und Mikrobiologin Ilse Jacobsen vom Hans-Knöll-Institut in Jena.
Die Seite wurde von der Allianz der Wissenschaftsorganisationen ins Leben gerufen. Dort begründen Forscher, warum es zu bestimmten Versuchen keine Alternative gibt. Sie erklären, warum sie vorgeschrieben sind, bevor neuartige Arzneimittel-Wirkstoffe beim Menschen eingesetzt werden. Und sie zeigen, an welchen Methoden inzwischen gefeilt wird, die ohne Tierversuche auskommen.
Nicht über die Versuche zu reden, war ein Fehler
Viel zu lange habe man darauf verzichtet, merkte Stefan Treue, Direktor des Deutschen Primatenzentrums in Göttingen und Präsidiumsbeauftragter der Leibniz-Gemeinschaft für Tierschutzfragen, bei einer Diskussion aus der Reihe „Leibniz debattiert“ in Berlin selbstkritisch an. „Jetzt kommt der Bumerang zurück.“ „Wir müssen Wissenschaftler erleben, die Verantwortung übernehmen, auch für andere Lebewesen", forderte dort die Grünen-Politikerin Theresia Bauer, Wissenschaftsministerin des Landes Baden-Württemberg. Die Wissenschaftsorganisationen hätten sich ebenfalls zu lange vor dem Thema gedrückt, sodass Einzelne sich gegen Angriffe verteidigen mussten und dabei in extrem unangenehme Situationen geraten seien, kritisiert Lohse. „Was sich nun wendet: Man redet über das Thema.“
In der Hauptstadt haben das offensichtlich auch die Politiker getan. „Berlin soll Hauptstadt der Erforschung von Alternativen zu Tierversuchen werden“, heißt es im Koalitionsvertrag. Darin verpflichtet sich die Koalition aus SPD, Grünen und Linken dazu, vorhandene Kompetenzen in einem Zentrum zu bündeln und auszubauen, in dem die Charité, das MDC, das Berlin Institute for Health (BIH) und weitere außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten.
Für das neue Labor wird ein anderes Tierhaus geschlossen
Skeptiker könnte es stutzig machen, dass ausgerechnet in der „Hauptstadt der Alternativen zu Tierversuchen“ in diesem Jahr die Eröffnung des In-Vivo-Pathophysiologie-Labors des MDC ansteht. Es soll Platz für bis zu 4000 Maus- und Rattenkäfige beziehungsweise für etwa 12 000 Tiere bieten. Allerdings wird dafür ein anderes Tierhaus geschlossen, sodass sich die Kapazitäten nicht erhöhen. Das Tierversuchshaus der Charité, das in Buch in unmittelbarer Nachbarschaft entstehen soll, ersetzt zudem eine Einrichtung auf dem Campus Benjamin Franklin. In einem Monitoring werde kontinuierlich überprüft, wie die Anzahl der Versuche und der Forschungserfolg sich entwickeln, versichert man beim MDC.
Gemessen an der Anzahl der „verbrauchten“ Tiere steht Berlin hinter Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen auf Platz fünf der Länder. Insgesamt nutzen Forscher seit 2013 etwas weniger Versuchstiere, zeigt die Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums. „Setzt man die Anzahl der Tierversuche in Relation zum derzeitigen Boom der lebenswissenschaftlichen Forschung, dann kann man sogar einen Rückgang verzeichnen“, argumentiert Lohse.
Auch neue Immuntherapien werden zuerst an Mäusen erprobt
Was allerdings weiter steigt, ist die Forschung mit genetisch veränderten Tieren, meist Mäusen. Sie werden so verändert, dass sie den Menschen – vor allem Kranken – ähnlicher werden und sollen dabei helfen, Volkskrankheiten wie Diabetes, verengte Herzkranzgefäße oder Krebs zu heilen. Ein hoffnungsvoller Ansatz aus dem MDC, Krebs mit Immunzellen zu bekämpfen, die zuvor auf den Tumor programmiert wurden, wird nun an Patienten getestet. „Es gab einen langen Vorlauf, in dem mit Mäusen gearbeitet wurde, die ein menschliches Immunsystem haben“, sagt Lohse. Ganz „tierversuchsfrei“ könne man nur werden, wenn man weitgehend auf medizinische Forschung verzichte, gibt der Mediziner und studierte Philosoph zu bedenken, zu dessen Schwerpunkten Arzneimittelwirkungen an den Andockstellen der Zellen gehören. „In unserer Verantwortung liegt es, die Versuche gut zu machen.“
Eines der „3R“- Prinzipien des verantwortungsvollen Umgangs mit Tierversuchen, die bereits 1959 formuliert wurden, heißt „refine“, verfeinern. Dazu muss man wissen, wie stark bestimmte Versuche eine Tierart belasten. „Es ist nicht unbedingt das Tier, das dem Menschen emotional am nächsten steht, das am meisten leidet“, sagt Lohse. Wichtig – und ethisch geboten – sei es, mit aussagekräftiger Biostatistik zu arbeiten und ausgeklügelte Versuchsanordnungen zu entwickeln, die es ermöglichen, mit wenigen Versuchstieren möglichst viele Daten zu gewinnen.
Mit Stammzellen kann man im Labor Mini-Organe züchten
So kann moderne Bildgebung mit Computer- und Magnetresonanztomografie sowie Ultraschall dazu dienen, den Verlauf einer Erkrankung bei den Tieren über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. „Dazu braucht man eine teure Infrastruktur und viel praktische Erfahrung“, sagt Lohse. Beides sei am MDC und an der Charité vorhanden, und beides diene letztlich dem Prinzip „reduce“, verringern. Forschungsvorhaben, in denen sich – ohne eine medizinische Fragestellung – alles einzig und allein darum dreht, wie Versuche verbessert werden könnten, werden derzeit im MDC nicht gemacht. „Bisher haben wir keinen politischen Auftrag dazu. Er würde allerdings gut zur Zielsetzung passen, die im Koalitionsvertrag formuliert wurde“, sagt Lohse.
Was das „replace“ betrifft, also die echten Alternativen zum Tierversuch, so hat die Freie Universität im Jahr 2012 eine Professur dafür eingerichtet. Und es gibt die aus Fördermitteln des Bundes finanzierte Berlin-Brandenburgische Forschungsplattform BB3R, die unter anderem in einem Graduiertenkolleg Ersatzmethoden zum Tierversuch entwickelt – vom Hautmodell über mithilfe von Stammzellen im Labor nachgebildete Mini-Organe (Organoid-Kulturen) bis hin zu Computersimulationen, die Körpervorgänge nachbilden. Zudem sollte man früh erkennen, welche Tests überflüssig sind. „Vielleicht reicht es dann, zwei statt zehn Wirkstoffe zu testen“, sagt Lohse.
Wo der öffentliche Druck den 3R-Prinzipien noch mehr Nachdruck verleiht, finden Forscher ihn wünschenswert. Mit persönlichen Vorwürfen haben sie Schwierigkeiten. Cliodhna Quigley, die am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen die visuelle Aufmerksamkeit von Rhesusaffen erforscht, versteht, dass ihre Arbeit kritisch beäugt wird. Sie kann es aber nicht vertragen, wenn man ihr unterstellt, die Tiere, mit denen sie ganze Tage verbringt, zu foltern. Am Ende eines Films der Initiative „Tierversuche verstehen“ sagt die junge Wissenschaftlerin, wie es ihr dann geht: „Ich bin beleidigt.“