Attacken auf die Geschlechterforschung: Das dubiose Gender
Was Geschlecht bedeutet, unterliegt dem Wandel. Für manche ist diese triviale Einsicht eine Provokation. Zwei Geschlechterforscherinnen zu den Anwürfen
Neu ist das alles nicht. Seit es Kritik an der Idee von der Natürlichkeit der Geschlechterordnung gibt, wird diese Kritik auch diffamiert. Schon 1902 griff die Berlinerin Hedwig Dohm, Schriftstellerin, Intellektuelle, Vorkämpferin für das Frauenwahlrecht und eine der wenigen, die sich auch im Ersten Weltkrieg gegen Krieg als Mittel der Politik positionierten, in ihrer Schrift „Die Antifeministen“ die antifeministischen Polemiken der Meinungsmacher ihrer Zeit auf spöttisch-humorvolle Weise auf. Deren Furcht vor dem weiblichen Geschlecht entlarvte sie als dümmliche Verteidigung von Machtansprüchen.
Waren schon damals nicht wenige der Meinung, Feministinnen und Feministen trieben es zu weit mit ihrer Infragestellung der natürlichen Ordnung der Dinge, so gewinnen solche Stimmen jetzt wieder an Gewicht. Fast scheint es, als sei die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert allgegenwärtige Angst vor der „Feminisierung der Kultur“ (Hannelore Bublitz) zurückgekehrt.
Seit Monaten drucken Feuilletons der bürgerlichen Presse offen misogyne, sexistische und auch homophobe Positionen. Besonders aber werden die Gender Studies diskreditiert: als „Exzess“, als „Ideologie“ oder als „Anti- bzw. Pseudowissenschaften“, die (natur-)wissenschaftliche Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen und uns (?) allen ihre krude, realitätsfremde Ideologie aufzwingen wollen.
Auch in den Weiten der sozialen Medien manifestiert sich auf oft wenig zivilisierte Weise die Empörung über die angebliche Gehirnwäsche durch Gender, die vermeintliche Verschwendung aberwitziger Summen öffentlicher (Steuer-)Gelder für Gender Studies und über den Untergang von Bildung, Kultur und Abendland durch Gender. Unverhohlen wird geschmäht, diffamiert und sogar mit Gewalt gedroht. Die Angriffe zielen darauf, Wissenschaftler/innen zu beschädigen und das interdisziplinäre Feld der Geschlechterforschung als ‚unwissenschaftlich‘ zu denunzieren.
Berlins Hochschulrektoren haben sich den Attacken positioniert
Einiges steht auf dem Spiel. Es geht um die Wissenschaft selbst, die nur dann frei sein kann, wenn sie in einer offenen, demokratischen und polyperspektivischen Gesellschaft als Praktik unbedingten Fragens und Verhandelns der Wirklichkeit begriffen wird. Soeben haben sich die Berliner Hochschulrektoren zu den Angriffen positioniert, denen sich auch Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgesetzt sehen. Schon vorher hatte die Leitung der Humboldt-Universität öffentlich Stellung bezogen. „Die Berliner Universitäten und Hochschulen sind Orte des freien wissenschaftlichen Austauschs“, erklären die Hochschulrektoren. „Persönliche Diffamierungen und Gewaltandrohungen ebenso wie die Diskreditierung von wissenschaftlichen Arbeitsgebieten, wie sie jüngst in den sozialen Medien und vereinzelt auch im Printbereich die Gender Studies betrafen, sind inakzeptabel.“ Hingegen sei der „fair und sachlich ausgetragene wissenschaftliche Meinungsstreit das Lebenselixier einer intakten Hochschule“.
Gender meint zunächst die Unterscheidung in Männer und Frauen
Was aber ist das, dieses dubiose Gender, das so machtvoll sein soll? – Gender meint zunächst eine Grenzziehung, nämlich die Unterscheidung in Männer und Frauen. Angesiedelt wird diese Differenz an einem historisch durchaus beweglichen, immer jedoch bestimmten Ort: dem des Körpers. Wurde die Frau im 19. Jahrhundert auf ihre Gebärmutter festgelegt, so sind es aktuell wahlweise das Gehirn, die Hormone oder auch die Chromosomen, die vorgeblich die Wahrheit des Geschlechts in sich tragen. Keine andere Leitdifferenz der Gegenwart ist derart eng an ein biologistisches Verständnis geknüpft.
Doch selbst wenn der Geschlechterunterschied sich anatomisch oder hormonell dingfest machen ließe, so ist es doch höchst erkenntnisreich, sich mit der Geschichte dieser Tatsache zu befassen. Genau das tun einige in den Gender Studies. Anders als davon auszugehen, dass es „Männer“ und „Frauen“ aufgrund ihrer unterstellten genetischen oder hormonellen Ausstattung, ihrer Hoden oder Eierstöcke, an und für sich gibt, erforschen die Gender Studies zum Beispiel die historisch konstituierte, kulturell und bisweilen juristisch geregelte sowie subjektiv interpretierte und angeeignete Bedeutung des Geschlechtsunterschieds.
Simon Baron Cohen und Judith Butler liegen nicht weit auseinander
Die Gender Studies konnten hier zeigen, dass die Grenzziehung zwischen Natur einerseits und Kultur andererseits mitnichten so offensichtlich und eindeutig ist, wie es der Alltagsverstand annimmt. Was Natur ist und welche Rolle sie für die menschliche Identität und Gesellschaft spielt, ist eben historisch wandelbar. Diese erkenntnistheoretisch völlig triviale Einsicht stellt allerdings für viele inner- wie außerhalb der Wissenschaft eine schwer zu schluckende Kröte dar. Es ist allerdings eine Einsicht, die Naturwissenschaftler/innen und Geschlechterforschende teilen. Jedenfalls ist es von der Position etwa des Cambridger Neurowissenschaftlers Simon Baron Cohen, der die alte Natur- versus Kultur-Debatte als geradezu absurd vereinfachend bezeichnet und dafür plädiert, die Interaktion zwischen beidem in den Blick zu nehmen, nicht weit bis zum Plädoyer der in Berkeley lehrenden Philosophin Judith Butler, die Geschlechterdifferenz als jenen Ort zu verstehen, an dem die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen immer wieder neu gestellt werden müsse.
Simplifizierende Natur/Kultur-Polemiken spielen in den Gender Studies daher auch keine Rolle. Im Gegenteil: Es sind Ansätze wie die von Ann Fausto Sterling, Professorin für Molekularbiologie an der renommierten Brown University (USA), wonach Gender sowohl sozial als auch biologisch konstruiert ist, die die wissenschaftliche Programmatik der Gender Studies bestimmen. Es wird also üblicherweise davon ausgegangen, dass es Materialitäten (etwa Strukturen des Gehirns, Anatomie, Chromosomen, Hormone) gibt, die bei Männern und Frauen wahrscheinlich häufiger oder seltener vorkommen. Zugleich wird aber eben auch davon ausgegangen, dass diese Materialitäten mit sozialen Umständen und Erfahrungen interagieren.
Hormone sind auch von UV-Licht oder der Diät abhängig, sie reagieren auf Angst oder Lust, sie treten je nach Alter einer Person unterschiedlich auf. Und umgekehrt: Hormone beeinflussen Angst und Lust, sie machen hungrig oder müde. Doch Hormone machen ebenso wenig wie bestimmte Hirnstrukturen oder Chromosomensätze Frauen und Männer.
Was es also bedeutet, individuell und gesellschaftlich eine „Frau“ oder ein „Mann“ zu sein, das wird nicht durch eine wie auch immer definierte biologische Essenz festgelegt. Die „Wahrheit des Geschlechts“ ist seit jeher keine nackte, sondern eine höchst bekleidete Wahrheit.
Die Diskreditierung der Gender Studies zeugt von Statusängsten
Bleibt zu fragen, warum es dagegen derzeit erneut eine medial geschürte Abwehr gibt. Es ist erst rund hundert Jahre her, dass deutsche Wissenschaftler wie der Physiker und Nobelpreisträger Max Planck oder der Maschinenbauingenieur und Rektor der TH Charlottenburg, Franz Reuleaux, sich mit dem Rekurs auf die Natur gegen das Recht von Frauen, zu studieren, stellten. Sie fürchteten einen irreversiblen Eingriff in die Naturgesetze, sollten Frauen als Gleiche in die Akademie einziehen. Wenige Jahrzehnte zuvor, 1873, hatte der Mediziner und Harvard-Professor Edward Clarke argumentiert, intellektuelle Arbeit ziehe wichtige Energie aus den Eierstöcken ins Gehirn und sei deshalb nicht bekömmlich für das weibliche Geschlecht.
Es sei dahingestellt, inwieweit die Wissenschaftler dies tatsächlich für eine wissenschaftlich fundierte Aussage hielten oder ob sie sich nur taktisch des wirkmächtigen Diskurses einer naturalisierten Geschlechterdifferenz bedienten, um sowohl eine prestigereiche Position zu verteidigen als auch die vor allem in der deutschen Professorenschaft damals weit verbreitete Statusangst, die sich als Angst vor der Feminisierung ihres Berufes äußerte, zu bekämpfen.
„To allow women to be like men would be to risk men becoming like women“ – „Erlaubt man Frauen, wie Männer zu sein, riskiert man, dass Männer wie Frauen werden“, hat die US-amerikanische Historikerin Joan Scott für einen anderen Kontext bilanziert. Spricht aus der Diskreditierung der Gender Studies also tatsächlich nichts als die Angst vor Uneindeutigkeit? Die Kultur, das „Volk“, die Familie, das Abendland, die Wissenschaft, ja selbst die Natur sind bislang allerdings nicht untergegangen an der wachsenden Einsicht darin, dass Gender wesentlich mehr und anderes ist als Eierstöcke oder Hoden. Daran wird sich auch zukünftig wenig ändern, selbst wenn die Gender Studies derart wichtig und einflussreich werden würden, wie ihnen unterstellt wird.
Sabine Hark ist Soziologin und leitet das Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) der TU Berlin. Paula Villa ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der LMU München.
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