Berlin: Warum hier länger studiert wird: In die Uni vertieft
Bildungshunger, Bürokratie-Dschungel – und ein Job zum Überleben: Es gibt viele Gründe, weshalb in Berlin im Bachelor und Master wieder länger studiert wird. Eine Campus-Umfrage.
Vor allem in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen überziehen viele Studierende an Berliner Universitäten kräftig die Regelstudienzeit. Das hatte kürzlich eine Umfrage dieser Zeitung an den Unis ergeben. Auch Zahlen des Statistischen Bundesamts bestätigen den Eindruck des „Berliner Bummel-Bachelors“. Auch im Master wird häufig überzogen. Geschichtsabsolventen an der Humboldt-Uni etwa kommen am Ende ihres zweistufigen Studiums auf eine längere Studienzeit als in den alten Magisterstudiengängen. Dabei sollten Bachelor und Master die Studiendauer eigentlich verkürzen. Fast scheint es, als holten sich die Studierenden die Zeit Stück für Stück wieder zurück, die ihnen durch die Bolognareform genommen werden sollte.
Doch was sind die Ursachen? Haben Studierende vielleicht Angst vor dem Berufseinstieg, wie der kürzlich wiedergewählte FU-Präsident Peter-André Alt kürzlich im Tagesspiegel-Interview vermutete? Jobben die Berliner nebenher mehr als andere? Oder macht ihnen das Studium zu viel Spaß? Wir haben Berliner Studierende und Professoren gefragt.
Mirella Fuchs, 25, studiert Romanistik im 8. Bachelor-Semester an der FU
„Ich bin nach zwei Jahren Studium von der LMU München an die FU Berlin gewechselt, weil ich mich in München nicht mehr wohlgefühlt habe. Der Wechsel hat mich viel Zeit und Energie gekostet. Es konnten mir auch nicht alle Leistungspunkte angerechnet werden, die ich aus München mitgebracht habe; mindestens ein ganzes Semester ist mir so verloren gegangen. Ich kenne auch viele andere, die Zeit an den universitären Bürokratie-Dschungel verloren haben.
Auch jetzt werde ich wahrscheinlich noch zwei bis drei weitere Semester brauchen, um fertig zu werden. Der wichtigste Grund dafür ist schlicht und einfach mein Interesse am Fach. Ich möchte tief in die Materie eintauchen, und das ist in Regelstudienzeit kaum möglich. Ein Beispiel dafür: In einem meiner Französisch-Seminare wurde ganz am Anfang gefragt, wer es schafft, neben dem Studium noch französische Literatur zu lesen – niemand hat sich gemeldet. Bei all den Pflichtveranstaltungen und Abgabeterminen kommt anscheinend kaum jemand mehr dazu, sich wirklich zu bilden.“
"Ich studiere, um mich persönlich zu bilden."
Lucía Heisterkamp, 24, studiert Sozial- und Kulturanthropologie, Englisch und Philosophie im 8. Bachelor-Semester an der FU
„Ich studiere nicht in erster Linie für den Arbeitsmarkt, sondern um mich persönlich zu bilden und um herauszufinden, was mir im Leben wichtig ist. Deswegen ist es nicht mein erstes Ziel, das Bachelor-Zeugnis so schnell wie möglich in der Tasche zu haben und Geld zu verdienen, sondern ich möchte die Welt tiefer verstehen lernen. Das hat nichts mit Angst vor dem Berufseinstieg zu tun – im Gegenteil, ich freue mich auf das Berufsleben. Aber ich habe noch nicht das Gefühl, die Dinge in der Welt nach sechs Semestern ausreichend verstanden zu haben.
Im Moment schreibe ich meine Bachelor-Arbeit, habe also zwei Semester überzogen. Das lag unter anderem daran, dass ich immer viel nebenher gearbeitet habe. Auch dass ich noch nachträglich Philosophie als weiteres Nebenfach dazugenommen habe, hat mich zeitlich zurückgeworfen. Meinen geistigen Horizont hat das aber sehr erweitert. Vor allem habe ich gemerkt, dass es Zeit braucht, Dinge zu hinterfragen und wirklich zu verstehen. In geisteswissenschaftlichen Studiengängen macht es einfach keinen Sinn, schnell alles auswendig zu lernen, um auch bloß in Regelstudienzeit fertig zu werden.“
"Versäbelt man auch nur eine Prüfung, braucht man oft ein ganzes Semester länger."
André Holzkämpfer, 23, studiert Maschinenbau im 1. Master-Semester an der TU
„Das Studium ist eine bereichernde Zeit, Studierende wollen diese lange auskosten, viel lernen und auch Spaß haben, bevor es in den Beruf geht. Auch das kulturelle Leben Berlins lenkt ab. Deswegen verspüren viele möglicherweise keinen großen Drang, so schnell wie möglich fertig zu werden. Ich kenne aber niemanden, der das Studium deswegen künstlich herauszögert, auch nicht aus Angst vor dem Berufseinstieg. Denn dafür, dass viele länger brauchen, sorgt schon der straffe Aufbau des Bachelors: Versäbelt man auch nur eine Prüfung, braucht man oft ein ganzes Semester länger.
Auch ich war erst nach siebeneinhalb Semestern fertig mit dem Bachelor, denn durch ein Praktikum und dadurch, dass ich meine Bachelor-Arbeit in einem Unternehmen geschrieben habe, habe ich Zeit verloren. Bei solchen kleinen Einblicken in die Arbeitswelt muss man immer abwägen: Einerseits werden sie stark gefordert, andererseits erhöhen sie eben die Studiendauer. Aber ich kann mir vorstellen, dass es vielen Arbeitgebern nicht wichtig ist, ob man ein bisschen länger studiert hat oder nicht. Die Erfahrung dürfte mehr wert sein.“
"Ich muss schnell fertig werden, weil ich sonst kein Bafög mehr bekomme."
Jonathan Talamo, 21, studiert im 4. Bachelor-Semester Psychologie mit Beifach Philosophie an der HU
„Ich muss auf jeden Fall in der Regelstudienzeit fertig werden, weil ich sonst kein Bafög mehr bekomme. Ich empfinde den Bachelor in sechs Semestern zwar nicht als allzu schwer, aber man muss schon all seine Prioritäten auf das Studium legen, um ihn zu schaffen. Wenn es nach mir ginge, würde ich mich neben dem Studium noch viel mehr gesellschaftlich und politisch engagieren, aber das geht leider zeitlich nicht. Vor allem, da das Bafög-Geld nur knapp reicht, nebenher muss ich noch arbeiten. Studierende aus bessergestellten Familien haben diesen Druck kaum, sie können freier über ihre Zeit und Ressourcen verfügen. Darin liegt eine strukturelle Ungerechtigkeit.
Ich finde es schade, dass das Studium oft nur als Berufsvorbereitung gesehen wird. Denn in dieser Zeit wird doch nicht nur Wissen vermittelt, es werden auch Persönlichkeiten gefestigt und Meinungen geprägt. Volkswirtschaftlich gesehen ist es vielleicht Luxus, Studierende ein wenig überziehen zu lassen. Aber für die Gesellschaft wäre das meiner Meinung nach sehr wertvoll. Und ist es nicht auch für die Wirtschaft besser, wenn Absolventen lebenserfahrener sind?“
"Die kritische Reflexion bleibt oft auf der Strecke"
Klaus Roth, 60, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Otto-Suhr-Institut der FU
„Bologna hat das Studium ,verschult‘, nun haben die Studierenden weniger Zeit für selbstständige Lektüren. Und wer sich, aus welchem Grund auch immer, nicht Vollzeit dem Studium widmen kann, kommt oft nicht mehr hinterher. Das merke ich in den ,Zwangsberatungen‘, die ich mit Studierenden ab dem 8. Semester durchführen muss: Dort sitzen viele, die zum Beispiel viel arbeiten müssen, chronisch krank sind oder Kinder haben. Durch den zeitlichen Druck und das hohe Quantum an Stoff, das gelernt werden muss, verändert sich aber auch die Art und Weise, wie gelernt wird.
Zum Vergleich: In meiner eigenen Studienzeit hatten wir etwa drei bis vier Seminare in der Woche, den Rest der Zeit haben wir mit Selbststudium in den Bibliotheken verbracht. Heute haben die Studierenden in einer Woche 20 bis 30 Stunden Anwesenheitspflicht. Wann sollen die noch lesen und das Gelernte vertiefen? Gerade in meinem Fach ist das zum Problem geworden, denn ein Verständnis politischer Ideen kann man nicht durch schnell notierte Phrasen gewinnen. Auch die kritische Reflexion bleibt so öfter auf der Strecke.“
"Wer bei uns länger braucht, hat dafür Gründe."
Uwe Gellert, 48, Professor für Grundschulpädagogik an der FU
„Zu Zeiten des Staatsexamens ist mir die ein oder andere Person begegnet, die viele als klassischen Langzeit- oder Bummelstudenten bezeichnen würden. In den letzten Jahren ist mir das gar nicht mehr untergekommen. Wer bei uns länger braucht, hat dafür Gründe. In dieser Hinsicht hat die Bolognareform ihr Ziel anscheinend erreicht. Insgesamt überziehen Studierende der Grundschulpädagogik etwas seltener als Studierende anderer Fächer. Das liegt möglicherweise daran, dass sie ein klares Berufsziel vor Augen haben und weniger Zeit brauchen, um sich beruflich zu orientieren.
Trotzdem habe ich den Eindruck, dass auch sie unter Druck stehen. Die Prüfungstermine im Bachelor sind eng getaktet, der Umfang anzufertigender Hausarbeiten groß. Wir haben in unserem Studiengang den höchsten Anteil an Studierenden mit Kindern, viele müssen sich auch selbst finanzieren. Da ist es natürlich ganz normal, dass diese ein paar Semester dranhängen müssen – aber übrigens selten doppelt so viele, wie die Regelstudienzeit vorgibt. Die verschiedenen Lebensrealitäten der Studierenden sollte man anerkennen, nicht jeder kann Vollzeit studieren. Deswegen bleibt es auch im Gespräch, ein Teilzeitstudium einzuführen.“
"Viele müssen während des Studiums arbeiten"
Rahel Jaeggi, 47, Professorin für Praktische Philosophie an der HU
„Wissenschaft braucht Zeit und die Möglichkeit, sich an Fragen und Themen festzubeißen. Der so knapp definierte zeitliche Rahmen von Bachelor und Master bietet unseren Studierenden dafür leider nicht viel Raum. Viele müssen ja während des Studiums arbeiten, wenige sind ausreichend finanziert. Das verzögert den Studienabschluss immens. Wobei sich durch diese Einblicke natürlich auch viele Chancen für den späteren Berufseinstieg ergeben, besonders für Geisteswissenschaftler ist das wichtig.
Gerade in der Philosophie lässt sich beobachten, dass die wirklich innovativen Thesen und Interessen selten im luftleeren Raum entstehen, sondern meist auf irgendeine Weise erfahrungsgesättigt sind. Diese Erfahrungen lassen sich schlecht terminieren. Insofern sind es häufig nicht die schlechtesten Studierenden, die ihr Studium ausdehnen. Und es sind oft auch eher diese Studierenden, die nach dem Studium in der Lage sind, eine Dissertation in Angriff zu nehmen. Ein mir bekannter Philosoph sagte einmal: ,Die durch das Langzeitstudium ermöglichte verlängerte Adoleszenz ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften der Bundesrepublik.‘“
- Die Statements wurden von Luisa Hommerich aufgezeichnet.
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