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Hinter den Regalen. Als die Stabi ihre Einträge aus den Jahren 1933–45 sichtete, erhärtete sich bei 11 000 Titeln der Raubgut-Verdacht. Die Preußische Staatsbibliothek spielte in der NS-Zeit eine zentrale Rolle bei der Verteilung enteigneter Bücher. 
©  Soeren Stache/dpa

NS-Raubgut: In der Berliner Staatsbibliothek lagern tausende gestohlene Bücher

In der Staatsbibliothek zu Berlin lagern noch tausende Bücher, die die Nazis einst gestohlen und beschlagnahmt haben. Die Rückgabe des NS-Raubguts ist kompliziert.

Leopold Scheyer war Apotheker und Besitzer einer großen wissenschaftlichen Privatbibliothek. 1902 hatte er die Alexander-Apotheke in Mitte gegründet. 1939 wurde der jüdische Geschäftsmann zum Verkauf gezwungen, die Familie emigrierte in die Niederlande. 1943 drohte ihnen die Deportation, Scheyer nahm sich daraufhin das Leben. Seine Töchter flohen nach Schweden, seine Frau starb im Vernichtungslager Sobibór. Doch was geschah mit Scheyers Büchern, die er allesamt mit Namensstempeln oder Exlibris markiert hatte? Darüber rätseln bis heute die Bibliothekare. Sie haben einzelne Exemplare wiedergefunden. Einige davon in der Staatsbibliothek zu Berlin, andere im Bestand der Zentral- und Landesbibliothek, wieder andere in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Auf welchen Wegen sind sie dort hingekommen? Und wo ist der Rest?

Nach den Museen spüren nun auch Bibliotheken NS-Raubgut auf

Seit 2006 bemüht sich die Staatsbibliothek intensiv, sogenanntes NS-Raubgut in ihren Beständen aufzuspüren und, wenn irgend möglich, an Erben zurückzugeben. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der auch die Stabi gehört, hat das Thema schon Ende der 1990er Jahre auf ihre Agenda gesetzt. „Zunächst betraf das eher die Museen“, sagt Barbara Schneider-Kempf, Generaldirektorin der Staatsbibliothek. Erst langsam rückten die Bestände der Bibliotheken in den Fokus. Aber auch wenn die Rückgabe von wertvollen Kunstwerken spektakulärer scheint, sei die Restituierung von Büchern trotzdem „ein wichtiger Baustein“ der geschichtlichen Aufarbeitung.

Die Generaldirektorin der Staatsbibliothek Barbara Schneider-Kempf (rechts) und Anette Wehmeyer, Leiterin der Abteilung, prüfenhistorische Drucke. Raubgut aus der NS-Zeit soll Besitzern zurückgegeben werden.
Die Generaldirektorin der Staatsbibliothek Barbara Schneider-Kempf (rechts) und Anette Wehmeyer, Leiterin der Abteilung, prüfenhistorische Drucke. Raubgut aus der NS-Zeit soll Besitzern zurückgegeben werden.
© Doris Spiekermann-Klaas

Doch wo und wie anfangen? Die Mitarbeiter der Staatsbibliothek hatten in den nuller Jahren immer noch mit den Spätfolgen von Krieg, Teilung und Wiedervereinigung zu kämpfen. Drei Millionen Bände umfasst der bis 1945 erschienene Altbestand der Bibliothek. In den 1940ern wurde er an dreißig Orte auslagert. Teilweise blieben die Bücher auch nach 1945 auf früher deutschem Gebiet in Polen oder wurden nach Russland gebracht. Mit der Teilung Deutschlands wurde die Staatsbibliothek geteilt, auch das brachte vieles durcheinander. Teilweise befanden sich die Kataloge im Westen, die dazugehörigen Bücher im Osten der Stadt und umgekehrt.

Überraschende Funde: Die Musikbibliothek von Arthur Rubinstein

Nach 1989 begann man mit der Zusammenführung und der elektronischen Erfassung der Altbestände – und brauchte dafür fast 25 Jahre. Dabei kam es immer wieder zu überraschenden Funden. 2006 wurden Handschriften aus der Musikbibliothek des Pianisten Arthur Rubinstein entdeckt und zurückgegeben. Im selben Jahr konnten 17 Bücher aus der verschollenen Privatbibliothek des Rabbiners Leo Baeck an eine Enkelin restituiert werden. „Doch das waren eher Zufallstreffer“, sagt Schneider-Kempf.

Bis zu 11 000 Titel könnten Raubgut sein

Um die Suche nach NS-Raubgut zu systematisieren, war Grundlagenforschung nötig. „Wir hatten anfangs keine Vorstellung davon, aus welchen Quellen die Bücher gekommen waren oder wie die Mechanismen der Verteilung abgelaufen sind“, sagt Annette Wehmeyer, Leiterin der Abteilung Historische Drucke. Von 2006 bis 2010 lief ein entsprechendes Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse 2013 publiziert wurden (Cornelia Briel: „Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet: NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945“). Die Untersuchung ergab: Die Nazis waren mit der üblichen bürokratischen Gründlichkeit vorgegangen. „Es war alles bis ins Kleinste geregelt“, erklärt Wehmeyer. Wo auch immer beschlagnahmt, enteignet oder geraubt wurde, ob bei Institutionen, Parteien, Vereinen, Kirchen oder Privatpersonen, meist kamen die Bücher nach Berlin.

Die Preußische Staatsbibliothek spielte zentrale Rolle bei NS-Raubgut

Die Preußische Staatsbibliothek behielt allerdings nur wenige der Werke selbst. „Aber ihr kam eine zentrale Rolle bei der Verteilung von NS-Raubgut zu“, sagt Wehmeyer. In Berlin wurden Listen erstellt, die an Bibliotheken in ganz Deutschland gingen. Kostenlos konnten die Bibliotheken so ihre durch Krieg dezimierten Bestände mit den geraubten Büchern auffüllen.

Was in Berlin blieb, wurde in handschriftlichen Akzessionsjournalen erfasst. In den letzten Jahren hat die Staatsbibliothek 375 000 Einträge aus der Zeit von 1933 bis 1945 geprüft. „Verdächtig ist es vor allem, wenn als Absender von Buchlieferungen Polizei- und Finanzbehörden, Wehrmachtsstellen, Bürgermeister oder Landräte auftauchen“, erklärt Wehmeyer. Bei 11 000 Titeln erhärtete sich der Verdacht, dass es sich um NS-Raubgut handelt. Zurückgegeben werden konnte bis Ende des Jahres 2014 trotzdem nur ein Bruchteil, gerade mal rund tausend Bücher. „Vierzig Prozent der Bücher waren nicht mehr auffindbar, sie sind entweder noch im Krieg vernichtet worden oder nicht zurückgekehrt.“

Die Suche nach früheren Besitzern ist kompliziert

Die verbleibenden 7000 Bände wurden aus dem Stabi-Magazin geholt und auf Hinweise nach früheren Besitzern untersucht. Nicht immer ließen sich, wie bei Leopold Scheyer, eindeutige Spuren finden. Vor allem das Reichssicherheitshauptamt, eine Institution der SS, lieferte nur Bücher ein, nachdem alle Stempel geschwärzt worden waren.

Selbst wenn sich die früheren Eigentümer ermitteln lassen, schließen sich oft noch langwierige Recherchen nach den Erben oder – bei Institutionen – nach den Rechtsnachfolgern an. Was bleibt, sind scheinbar eher kleine Erfolge.

Zuletzt konnte die Staatsbibliothek im Dezember die Rückgabe von 13 Bänden an die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien melden. Anfang der 1930er Jahre besaß die IKG eine Bibliothek mit 35 000 Bänden. Dazu kamen die Bestände zahlreicher jüdischer Vereine, die vermutlich 1938 bei der IKG eingelagert worden waren. Im Zuge des Novemberpogroms 1938 versiegelte die Gestapo die Bibliothek der IKG. Auf Befehl von Adolf Eichmann wurden die Bücher zwischen 1939 und 1941 von Wien nach Berlin gebracht. Ein Teil reiste weiter in Außenlager nach Niederschlesien und Nordböhmen. Bis heute ist nur ein Bruchteil des alten IKG-Bestands wieder aufgetaucht. Für Oskar Deutsch, den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, ist die Rückgabe der 13 Bände trotzdem mehr als ein symbolischer Akt: „Jedes Buch hat seine Geschichte, unabhängig von seiner Bedeutung. Am Schicksal jedes einzelnen Buches, ob Eigentum einer Privatperson oder einer Institution, kann die Verfolgungsmaschinerie des NS-Regimes und die Verflechtung der einzelnen Behörden nachvollzogen werden.“

Was passierte nach 1945 mit enteigneten Büchern?

Verantwortung für ihr politisches Erbe will die Stabi auch weiterhin übernehmen. In den kommenden zwei Jahren läuft ein neues Forschungsprojekt an, das sich mit dem Verbleib von NS-Raubgut in der Nachkriegszeit beschäftigt. „Das ist ebenfalls ein großes Thema“, sagt Schneider-Kempf. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Unmengen an herrenlosen Buchbeständen. „Wir wollen untersuchen, wie diese Bestände verteilt wurden und wo sie sich heute befinden.“ Bis heute wird der Stabi gelegentlich von Antiquaren NS-Raubgut zum Kauf angeboten. „Auch als Privatkunde sollte man sehr kritisch hinsehen“, rät Annette Wehmeyer.

Bei Verdacht auf NS-Raubgut hilft manchmal die Datenbank www.lostart.de oder das Provenienz-Wiki des Bibliothekverbundes GBV weiter. Auf beiden Webseiten kann man nachschauen, ob sich hinter alten Bibliotheksstempeln, Exlibris und handschriftlichen Namenseinträgen frühere Besitzer verbergen, die vor über siebzig Jahren beraubt oder enteignet wurden.

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