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Als Kulturhotel haben Suzanne und Carlos Gross das Aldier in Sent konzipiert.
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Schweiz: In den Zimmern schneeweiße Plumeaus

Sent ist ein schmuckes Dorf im Unterengadin. Dort hat sich die Pensiun Aldier mit viel Kunst als Gast-Haus etabliert.

Carlos Gross hat in Sent den Teppich ausgerollt. Mitten im Dorf, wo propere Engadiner Häuser und elegante italienische Palazzi dicht an dicht verschachtelt beieinanderstehen, beugen sich Spaziergänger übern Lattenzaun. Hinter dem blüht ein kleiner Kaffeehausgarten. Gäste sitzen beim Hollerwasser.

Ein Koch zupft Kräuter aus den Rabatten. So eine Oase ist wie eine Einladung, und wer die Treppe zur Pensiun Aldier hinaufsteigt, wird entweder zum Mittagessen bleiben oder gleich einchecken. Kunstfreunde streben ins Souterrain und staunen über hunderte lithografische Blätter mit Zeichnungen Alberto Giacomettis. Carlos Gross hat sie gesammelt über Jahrzehnte. Er ist der Gastgeber in dem kleinen Hotel.

„Landschaft! Landschaft. Morgenhimmel, Abendhimmel, immer golden dort in der Ferne. Ah! Wie soll ich es sagen? Man kann es nicht sagen, man muss sie malen, die großen flüssigen Himmel ...“, so heißt es in den Kindheitserinnerungen des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti (1901–1966), gelesen und bis zum Mittag sitzen geblieben beim Frühstück in der reich bestückten Bibliothek des Aldier.

Draußen geht Sprühregen nieder, und drinnen ist es so gemütlich. Alberto Giacometti wuchs in dem Bergeller Bergdorf Borgonovo auf. Das ist auch in Graubünden, jedoch kein Katzensprung von Sent aus. Der Kanton ist der flächenmäßig größte der Schweiz.

Wanderer fädeln sich in eines der Seitentäler ein

Sent ruht als stille Schönheit wie auf dem Ausguck. Es befindet sich im Unterengadin. Das Inntal liegt ihm zu Füßen, ein sonnenbeschienener Weg führt am Hang entlang westwärts nach Scuol und in die andere Richtung nach Ramosch. Die sich weit ausbreitende Gemeinde im Dreiländereck reicht nach Süden hin bis zur italienischen Grenze, und im Norden ist schon Österreich.

Wanderer fädeln sich in eines der Seitentäler ein: ins karstige Val S-charl mit seiner Bergarbeitervergangenheit, oder sie spazieren durch das wildromantische Landschaftsschutzgebiet des Val Sinestra über Hängebrücken bis nach Zuort in Ramosch.

Das Aldier ist äußerlich dem Unterengadin angepasst, innen herrscht schlichte Eleganz und es gibt viel Kunst.
Das Aldier ist äußerlich dem Unterengadin angepasst, innen herrscht schlichte Eleganz und es gibt viel Kunst.
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Dort über dem Gasthaus mit Sonnenterrasse inmitten kniehoher Blumenwiesen hat der niederländische Komponist Willem Mengelberg (1871–1951) in den 20er Jahren ein Chalet bauen lassen und dazu eine hölzerne Kirche im norwegischen Stil mit alpenländischer Schnitzkunst. Mengelberg blieb den Zweiten Weltkrieg über und hat sogar den Prinzen der Niederlande empfangen. Auch der deutsche Komponist Richard Strauss (1864–1949) soll auf Zuort seine Sommerferien verbracht haben.

Noch heute können Feriengäste in den historischen Stuben wohnen und von der Heusauna aus ins frische Gras treten. Zuort ist ein idyllischer uriger Ort.

"Sent hat was"

Dem Schweizer Carlos Gross gefiel Sent sofort. Mit Giacomettis Zeichnungen im Gepäck hatte er sich aus Italien kommend über das Bergell bis nach Sent hinaufgearbeitet. Dort lernte er den Künstler Not Vital und dessen Bruder Duri kennen. Gross kaufte das einstige Hotel Rezia und Duri, der Architekt, baute es um. 2012 wurde das Rezia als Aldier neu eröffnet. Gross ist gelernter Hotelier. „Sent hat was“, sinniert er. „Es ist ein intaktes Dorf mit erhaltener Infrastruktur. Ein Ort mit Anschluss.“ Das quirligere Scuol ist nicht weit, Italien, Österreich.

Schon als Kind hatten ihn die Ölbilder Giacomettis beeindruckt. Später lernte er den Fotografen und Verleger Ernst Scheidegger kennen, der heute 92-jährig in Zürich lebt. Scheidegger war ein Freund Alberto Giacomettis. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Diego arbeitete er seit 1922 in Paris.

Scheidegger fotografierte den Künstler immer wieder in seinem Atelier, und viele dieser Schwarz-Weiß-Fotos hängen jetzt in den Räumen des Aldier. Scheidegger, der 2013 eine letzte Reise nach Sent machte, war sehr gerührt. „Das hast du gut gemacht“, hat er zu Carlos Gross gesagt und eine Träne verdrückt. Im Zusammenspiel mit den Radierungen und Lithografien sorgen seine Fotografien für ein einzigartiges Flair im Hotel.

Herzallerliebste Blumensträuße überall im Haus

Schlüsselerlebnis. Hier funktioniert das noch bei jedem Gast. Plastikkarten, wie heutzutage in vielen Hotels üblich, passen nicht ins Aldier.
Schlüsselerlebnis. Hier funktioniert das noch bei jedem Gast. Plastikkarten, wie heutzutage in vielen Hotels üblich, passen nicht ins Aldier.
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Das Aldier ist wie die gute Stube kultivierter Menschen. Da sind die rehbraunen, seidenweichen Ledermöbel, die schlichten Bugholzstühle eines Tischlers aus Glarus. Holz, Stein, feines Ziegenhaar oder Linoleum schmeicheln den Füßen. Dazu die sandfarben gewürfelten Tischdecken und herzallerliebste Blumensträuße überall im Haus.

Nadia Rybarova, Carlos Gross’ rechte Hand, pflückt sie zur entsprechenden Jahreszeit eigenhändig aus den umliegenden Wiesen: Klee, Margeriten, Kamille, Paradieslilien und jede Menge Gräser. In den Zimmern dominieren Arven- und Lärchenholzpaneele, schneeweiße Plumeaus und ein Le-Corbusier-Sessel. Schön sind die Bäder. Hier stimmt einfach alles, denkt man.

Es gibt sie also doch, die guten Dinge. Man spürt die Hand des Gastgebers, seine Lust am Kreieren. „Ich bin am besten im Kleinen“, gesteht Carlos Gross. Das Haus hat lediglich 14 Zimmer und zwei Suiten. So einen komplexen, überschaubaren Mikrokosmos zu gestalten, das sei einfach berauschend. „Berghotel mit Sammlung“, nennt er sein Gast-Haus.

Im Aldier kann man sich zu Hause fühlen. Und auch die Giacomettis sind angekommen in der Heimat, und der Gast, wenn er will, macht eine kleine Kulturreise.

Aus allen Brunnen fließt köstliches Bergwasser

Wir spazieren durchs Dorf und gleich wieder raus. Am Ortsausgang befindet sich der Skulpturengarten des Künstlers Not Vital, eine Art Erlebnispark am Hang mit Spiegelbrücken, Schafsköpfen und aus dem Gras emporwachsenden Häusern. Sent selbst ist geprägt von den Bauten der Zuckerbäcker, die einst nach Italien auswanderten und manchmal sogar reich wurden. Als sogenannte Randulins kehrten sie wie die Schwalben zurück und bauten im Dorf ihre italienisch inspirierten Häuser.

Palazzi stehen jetzt neben den nicht weniger prachtvollen Engadiner Häusern mit den dort typischen Sgrafitti. Davor steht die Bancaporta, eine Bank für den Dorfschwatz. Man trifft sich.

Sent hat viele Brunnen. An fast jedem Platz steht einer. Aus allen fließt köstliches Bergwasser. Einige geben sogar zweierlei Wasser. Denn wenn durch Risse in Gneis und Granit die für die Landschaft so typischen Schiefergase hervortreten und sich unter das Grundwasser mischen, sprudelt Mineralwasser hervor. Manch ein Spaziergänger trinkt da aus der hohlen Hand oder füllt sein Fläschchen. Scuol hat noch mehr Brunnen. 25 sollen es dort sein.

Im Winter und Frühjahr ist Sent still und beschaulich. Bis der Sommer kommt. Rundum blühen dann die Wiesen, und manchmal gibt es unverhofft einen puderfeinen Sommerschnee. Im Juli füllt sich der Ort mit Sommergästen. Die Nachfahren der Randulins beleben ihre Häuser, und im Aldier ist Hochsaison. Mit dem Altweibersommer kommt dann eine schöne Zeit zum Wandern. Bei Arno Steiner kann man handgewebte Seidenschals erstehen, falls es abends schon kühl wird, oder ihm bei der Arbeit über die Schulter schauen.

„Es lebt sich hier ganz prächtig"

Im Restaurant des Aldier mischt sich das Mediterrane mit dem Bündnerischen. Wenn es Herbst ist, sammelt die Senterin Brigitte Trompetenpilze und Pfifferlinge, und Carlos Gross berät mit seinem Koch, wie sie am besten zubereitet werden. Der Fischer Jatchen angelt Forellen im Inn, die noch am gleichen Tag im Hotelrestaurant zubereitet werden. Außerdem gehen im September die Jäger auf die Pirsch. So manches Wildbret landet auf den Tellern der Hotelgäste.

Carlos Gross strebt in den Garten. „Das ist meine Spielwiese. Da lass ich niemanden ran.“ Sagt’s und verschwindet mit einem dicken Kürbis in der Küche.

Es ist später Nachmittag. In der Beletage des Hotels schmiegen wir uns in die bereitgelegten Schaffelle auf der Sonnenterrasse, bestellen ein Stück hausgemachte Torte und widmen uns der Geschichte der Zuckerbäcker. Ohne sie gäbe es schließlich keine Engadiner Nusstorte.

In dem leider schon vergriffenen Buch von Dolf Kaiser aus den 80er Jahren schreibt ein Senter Konditor, den es1832 statt gen Süden nach Italien nordwärts ins deutsche Berlin verschlagen hatte: „Es lebt sich hier ganz prächtig, es ist eine seltene, sublimschöne Welt …“ Das ließe sich auch von Sent sagen.

Tipps für das Engadin

ANREISE

Flüge mit Air Berlin oder Lufthansa/Swiss nach Zürich. Von dort mit dem Zug in knapp drei Stunden nach Bad Scuol.

ÜBERNACHTUNG

Pensiun Aldier (Telefon: 00 41 / 81 / 86 03 00 00, Internet: aldier.ch); Übernachtung mit Frühstück ab 127 Franken (etwa 112 Euro) pro Person im Doppelzimmer (Einzelbelegung 70 Prozent der Doppelbelegung), Halbpension 48 Franken (Betriebsferien bis zum 21. Dezember).

SEHENSWERT

Der Skulpturenpark von Not Vital in Sent (notvital. com, sent-online.ch). Die Werkstatt des Webers der feinen Schals: Arno Steiner (Telefonnummer: 00 41 / 79 / 569 22 85)

LITERATUR

Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch, btb, München 2010, 19,60 Euro

AUSKUNFT

Schweiz Tourismus, Telefon: 008 00 / 100 200 30

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