Engadin: In weißer Ferne ein Bauerndorf
Still und leise unterwegs: eine mehrtägige Winterwanderung auf alten Saumpfaden durchs Engadin.
So ein Bergdorf wie Sent wünscht man sich öfter: kompakt, urtümlich, verkehrsarm und doch lebendig. Die lichtdurchfluteten Gassen sind kopfsteingepflastert und erweitern sich immer wieder zu ansehnlichen Plätzen, auf denen wuchtige Steinbrunnen den Blickfang bilden. Umstanden sind sie von prächtigen Bauernhäusern und Palazzi, die sich in Baustil und Bemalung voneinander unterscheiden. Gemein sind ihnen dicke Schneepolster auf den Dächern: Sent im Unterengadin – ein Wintermärchen.
Trotz der guten Schneebedingungen sind wir nicht zum Skifahren in diesen stillen Winkel der Schweiz gekommen. Diesmal steht uns der Sinn nach Langsamkeit und Stille. Beides verspricht der neue Verbindungsweg nach Motta Naluns, der nur für uns – die Fußgänger im Schnee – gepfadet wird. Weil es von Sent aus drei Stunden stramm bergauf geht, wird die Strecke meistens andersherum begangen. Doch warum sollte man es sich bequemer als nötig machen? Schließlich sind wir Winterwanderer und keine Spaziergänger. Oben angelangt, schweben wir auch nicht mit der Gondel ins Tal zurück, sondern gehen einfach weiter – bis nach Susch, das zwei Tagesetappen entfernt liegt. Unterstützt werden wir dabei von unseren Hoteliers. Als bisher wohl einzige alpine Destination bietet das Unterengadin einen Gepäckservice für winterliche Streckenwanderer, wenn auch noch nicht an jedem Ort.
Gemächlich stapfen wir los, der Schnee knirscht unter den Sohlen, die Lungen pusten weiße Fahnen in die klare Winterluft. Mit jedem Höhenmeter weitet sich die Sicht. Blinzelnd folgen unsere Augen dem Seitental von Scharl nach Süden – in den Schweizer Nationalpark. Im Vordergrund stehen die zwei gewaltigen Wächter des Taleingangs, der Piz Pisoc und der Piz S. Jon. Zu ihren Füßen thront Schloss Tarasp über der Schlucht, die sich der Inn in Jahrzehntausenden gegraben hat.
Das Unterengadin steht schon länger im Ruf, nicht nur auf Skisport zu setzen. Anfang der neunziger Jahre wurden Winterwanderer jedoch auch hier noch skeptisch beäugt. Wie in anderen Wintersportgemeinden war man vor allem am Verkauf von Liftabonnements interessiert. Doch die Gäste waren plötzlich „multioptional“ geworden: Am ersten Tag akklimatisierten sie sich mit einem ausgedehnten Spaziergang, am nächsten gingen sie ins Thermalbad und erst am dritten auf die Piste – das allerdings nur, wenn das Wetter dafür ideal war.
Im urigen Dorf Ftan sitzen wir schließlich am Fenster unseres gemütlichen Gasthauses und beobachten, wie die Sonne hinter den Bergen versinkt. In wenigen Minuten werden die lichtumsäumten Dreitausender der anderen Talseite zu düsteren Schattengestalten. Einzig die schon zu Österreich gehörenden Bergspitzen im Osten erhalten noch Sonnenlicht und erstrahlen in kräftigen Rottönen.
Der Ruf zum Abendessen weckt uns aus dem wohligen Dämmerzustand, in den uns zwei Gläser Glühwein versetzt haben. Es gibt Gerstensuppe und Capuns, das heißt, Spätzle in Mangoldblätter gewickelt und mit Bergkäse überbacken. Dazu bestellen wir einen Blauburgunder aus Malans, einem der besten Weinanbaugebiete Graubündens. Früher als gewohnt macht sich eine gewisse Bettschwere bemerkbar. „Das ist die Höhenluft“, behauptet jemand aus unserer Gruppe.
Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne. Wie Sent liegt auch Ftan hoch über der Talsohle auf einer Hangterrasse. Ein Wandertag ohne Skilifte und Autostraßen steht uns bevor, ein Tag, der fantastische Fernblicke, sonnige Gasthausterrassen und kulturelle Sehenswürdigkeiten verspricht. Die erste besteht aus einem archaisch anmutenden Gemäuerrest. Der Infotafel zufolge ist die Ruine eine ehemalige Sust – ein Lagerhaus für Handelswaren. Es lag an der damaligen Verbindungsstraße von Tirol nach Como und weiter nach Mailand. Natürlich war die „Via Imperiale“ keine Straße im modernen Sinn, sondern nur ein gut befestigter Saumpfad, der auch im Winter offen gehalten wurde. Er umging den seinerzeit noch unpassierbaren Talgrund auf halber Höhe und verband die heute so abgelegen erscheinenden Bauerndörfer. Erst 1860 sollte die viel tiefer gelegene Fahrstraße gebaut werden. Nun lagen Ftan, Sent, Guarda und Tschlin plötzlich im Abseits – eine glückliche Katastrophe aus heutiger Sicht, denn so konnten die Dörfer ihre Ruhe und Ursprünglichkeit bewahren.
Eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges ist Ardez. 1973 wurde die geschlossene Siedlung zu einem der vier besterhaltenen Dörfer der Schweiz gekürt. Trotz der einmaligen Fülle historischer Bausubstanz steht es heute im Schatten von Guarda, das wir in der Abenddämmerung erreichen. Das Schweizer Bilderbuchdorf ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Der Erhaltungszustand der Bauten ist erstaunlich – etwa hundert zumeist 300 Jahre alte Steinhäuser schmiegen sich eng aneinander. Sie gruppieren sich um die opulenten Dorfbrunnen. Obwohl ausnahmslos im Engadiner Stil, sind auch diese Bauernhäuser unverwechselbare Unikate. Das sind sie vor allem durch ihre großflächigen Sgraffiti – eine besondere Art von Wandmalereien –, für die zuerst die Mauer mit Kalk verputzt wurde. Die zu dekorierenden Stellen bestrich man dann mit dickflüssiger Kalkmilch. Solange der Putz noch weich war, wurden schließlich die Ornamente aus der weißen Fläche herausgekratzt.
Am letzten Wandertag sind die Gipfel allesamt hinter einem dichten Wolkenteppich verschwunden. Es ist, als hätte jemand über Nacht eine Zwischendecke in die Bergwelt eingezogen. Die Pensionswirtin blinzelt skeptisch zum Gipfel, murmelt etwas von Schnee. Wir folgen der Via Engiadina, die von Guarda aus sanft nach Lavin absteigt. Als wir dort im warmen Café sitzen, schneit es draußen in dicken Flocken. Macht nichts – bis Susch brauchen wir nur noch ein Stündchen und fahren dann ohnehin nach Scuol zurück. Dann sind nur kleinere Wanderungen und Ausflüge angesagt – und Wellness im Bogn Engiadina, dem Thermal- und Erlebnisbad mit Römisch-Irischer Abteilung und Saunalandschaft. Auch Winterwanderer lieben Entspannung im Warmen. Vielleicht gehen wir morgen sogar auf die Piste – wenn genug Pulverschnee gefallen ist – und die Sonne scheint.
Gerhard Fitzthum
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